Von Anne Zeisig

KLAUS:

Gisela war neu in unsere Neun A, gekommen.

Ihre Erscheinung hatte bei mir eingeschlagen wie eine Gefühlsbombe, mein Körper geriet in Aufruhr, ich bekam Schweißausbrüche und meine Hände zitterten derart, dass ich sie unter dem Tisch verbergen musste, um mich vor den anderen nicht lächerlich zu machen.

Ich schielte zu Werner hinüber.

Werner, der gutaussehende Weiberschwarm, Klassenbester und Leithengst, fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen und stieß einen leisen spitzen Pfiff aus.

Ich zog meinen Kopf zwischen meine Schultern und bemerkte, wie mir die Röte ins Gesicht getrieben wurde.

 

„Hey, Porky“, stieß Werner mich in die Seite, „die Braut ist nichts für ‘n fettes rosa Grunzschweinchen.“

 

Ich heftete meinen Blick auf das Matheheft vor mir, biss die Zähne hart knirschend aufeinander und verschloss meine Ohren. War geübt im Weghören.

Dennoch oder gerade deswegen zog ich nach der Schule mit Werner und seinen Konsorten umher, weil sie das Selbstbewusstsein hatten, welches mir fehlte.

Andere Freunde hatte ich schließlich nicht.

 

Dann saß sie vor mir. Ihr langes braunes Haar fiel in Wellen ihren schmalen Rücken hinab.

Und einmal blickte sie kurz hinter sich, mir direkt in die Augen. Süße Sommersprossen zierten ihre kleine Nase.

Klar, lief ich wieder rot an. Fühlte mich ertappt, weil mich ihr Anblick erregte. Stand auf, stammelte was von „Toilette“ und stürzte aus dem Klassenzimmer.

Auf dem Klo masturbierte ich und hatte dabei ein schlechtes Gewissen, weil mein Penis mir keine Ruhe ließ, ich sein Eigenleben nicht beeinflussen konnte.

Jeder in der Klasse würde mir ansehen, was ich getrieben hatte, also betrat ich mit gesenktem Kopf den Raum und schlich zu meinem Platz.

 

* * * 

 

In den Folgewochen befand sich mein Gehirn in ständiger „Zwanzigtausend-Volt-Einstellung“. Ich konnte keine klaren Gedanken fassen, weil ich ausschließlich dieses elfenhafte Wesen vor mir sah. Nachts wälzte ich mich unruhig im Bett umher, schwamm im eigenen Schweiß und stierte aus dem Mansardenfenster in den Sternenhimmel. Jeden dieser Funkelbrillanten würde ich ihr vom Himmel holen. Ich wusste, dass das kitschig war.

 

Mein brünetter Engel hatte sich einer Mädelsgruppe angeschlossen. Sie standen meistens im Kreis auf dem Schulhof, gackerten und stießen hochtonige Schreie aus, kämmten sich gegenseitig ihre Haare und tauschten Lippenstifte aus, deren Farben sie sich auf die Handrücken malten.

Oft sah mein Schwarm zu uns hinüber und ich habe mir tatsächlich eingebildet, dass sie mich meistens kurz anlächelte.

 

„Haste das schon mitgekriegt, Porky? Die Neue macht sich mit ihrem Weiberverein lustig über dich! Das hat mir ihre kleine Schwester erzählt, die mit meinem Bruder in eine Klasse geht!“

 

Der Asphalt des Schulhofes waberte wie Wackelpudding unter meinen Sandalen, tat sich unter mir auf und ich strudelte mit fuchtelnden Armen hilflos hinunter in einen schwarzen Abgrund.

 

„Mal ehrlich!“, zischte mir Werner hinterher, „sie spielt die Hauptperson in deinen dreckigen

Fantasien, wenn die Lady dir als Wichsvorlage dient.“

 

Die Gruppe grölte, dabei klopften sie sich derbe auf die Schenkel.

 

Ich beschloss, nie mehr aus diesem tiefen Loch emporzukriechen, aber da ertönte auch schon die Pausenklingel zur nächsten Stunde.

 

„Klau doch einfach in ‘Jennys Modeschmuck-Shop’ eine Kette, und ich werde bei ihr mit diesem Geschenk ein gutes Wort für dich einlegen“, schlug Werner mir vor.

 

Natürlich wusste ich, dass man nicht stiehlt.

Natürlich wusste ich, dass ich ihr das Geschenk nicht selber übergeben würde, weil ich keine Traute hatte.

 

„Oder biste etwa zu feige?“, fragte Werner.

 

Stotternd trug ich bei Frau Uhlenbrock meine Interpretation eines Liebesgedichtes vor. Keine Ahnung mehr, von wem das war.

Das Gekicher und Gefeixe habe ich überhört.

War ‘ne Kleinigkeit für mich, das Ohrenschmalz in meinen Gehörgängen so zu aktivieren, damit nichts Unangenehmes meine Gehörschnecke erreichen konnte.

 

* * *

 

Zu meiner Überraschung hatte der Diebstahl reibungslos geklappt. Ich fühlte mich mutig und übergab die Trophäe Werner, der sofort in der Pause zu den Mädels hinüberging.

Er zeigte in unsere Richtung und übergab Gisela die silberfarbene Kette mit einem kleinen Schutzengel als Anhänger daran.

Die Mädchen stießen ihre Köpfe über dem Geschenk zusammen, kicherten, wie es halt ihre Art war und dann …

DANN gab MEINE ANGEBETETE Werner einen Kuss auf die Wange …

und der blickte mit schnalzender Zunge triumphierend zu mir.

 

„Du hast ihr nicht gesagt, dass das mein Geschenk ist!“, wagte ich aufzubegehren, als er sich breitbeinig mit aufgeplusterter Brust vor mich stellte und sich über seine vor Haarpomade triefende

Elvistolle strich.

 

„Ganz ruhig, Porky. Ich habe ihr gesagt, dass du zu schüchtern bist, ihr das Geschmeide selbst zu geben! Da hat sie mir einen auf die Backe gehaucht und den soll ich dir überbringen.“

 

Tatsächlich leckte der Kerl mein Gesicht ab und die anderen bogen sich vor Lachen.

Ekelhaft!

Die Mädchen fielen gackernd ein in dieses Schmäh-Konzert  … mein Engel auch.

 

Und es sollte für mich noch schlimmer kommen.

 

Gisela rief: „Rosa ist doch nicht nur die Farbe für Schweinchen, sondern auch für Schwule!“

 

Sie wurde Werners Perle! Und offenbar machte es ihnen Spaß, sich auf dem Schulhof vor meinen Augen abzuknutschen, als gäbe es kein Morgen.

Keine Ahnung, wieviel Messerklingen bei dem Anblick durch meinen Leib stachen.

 

Ich sehnte die Ferien herbei.

Die verbrachte ich alleine in meinem Zimmer, lungerte auf dem Bett herum, drehte die Mucke volle Pulle auf, und vergnügte mich mit den Pornoheften meines Vaters, um Druck abzulassen.

Seltsamerweise versagte mein Penis zwischendurch seinen Dienst.

‘So sehen Versager aus’, sagte ich mir, als ich mich nackt im Spiegel betrachtete. Die Arme zu lang, die stämmigen Beine zu kurz und dann noch der Schwabbelbauch.

Und nicht der geringste Ansatz einer einzigen Bartstoppel! 

 

Kurze Zeit später musste ich wegen Umzugs die Schule wechseln.

Ich hasste Gisela abgrundtief! 

 

GISELA:

Als ich neu in die Neun A gekommen bin, fiel mir sofort der blonde Junge auf, der mich verstohlen ansah. Irgendwie wirkte er sympathisch, weil er sich nicht so in Positur setzte wie zum Beispiel dieser Werner.

Aber toll sah der aus, keine Frage. Markantes Gesicht und eine Elvistolle vom Feinsten.

Und hatte immer jede Menge Jungs in der Pause um sich geschart. Ein beliebter Typ halt. Ein Alphamännchen. Klaus gehörte auch zu seiner Gefolgsmannschaft.

Wie sich herausstellte, war Werner sogar der Beste in der Klasse. Ein Intelligenzbolzen, der von den Mitschülerinnen derart angeschmachtet wurde, dass ihnen der Sabber aus den Mündern lief.

 

Schnell bekam ich Zugang zur Mädelsgruppe, die mir erzählten, dass der blonde Klaus, den sie Porky nannten, weil sich seine helle Haut in der Sonne so schnell rosa färbte, dass der dem Werner ‘aus der Hand fressen’ würde.

Von da an tat mir Klaus wirklich leid, weil er offenbar keine anderen Freunde fand. Deshalb lächelte ich ihm manchmal kurz zu.

Nur kurz. Denn Hoffnungen wollte ich ihm ja nicht machen, weil ich nicht auf schüchterne Typen stand, denn zurückhaltend war ich selber.

 

Natürlich hätte ich Klaus gerne mal gefragt, ob er mit mir in die Eisdiele gehen will, weil ich ihn gerne als Kumpel haben würde. Ich habe mich nicht getraut, denn ehrlich gesagt, das Einzige, was ich an mir mochte, waren meine Haare.

Meine dürren Beine zu lang geraten, meine Arme zu kurz und dann ab Frühjahr diese massenhaften Sommersprossen auf einer viel zu kleinen Nase.

Ich habe stets registriert, wie alle auf diese braunen Punkte gestarrt haben.

Auch Klaus! Von dem ich DAS am wenigsten erwartet hätte!

 

Und dann, eines Morgens, wir hatten Große Pause, da hat Werner mir vor all meinen Freundinnen diese wundervolle Kette mit einem Schutzengel daran geschenkt.

Echt. Ich hatte sowas Schönes noch nie von einem Jungen bekommen. Hatte mir dieses Schmuckstück oft in ‘Jennys Modeschmuck-Shop’ angesehen, aber der Preis hätte mein Taschengeld gesprengt, denn die Mädels und ich, wir kauften uns auch gerne die neuesten Lippenstifte und andere Kosmetik. Außerdem benötigte ich ja immer abdeckendes Make-up wegen der Sommersprossen.

 

Jedenfalls:

Ich war hin und weg. Und diese neidvollen Blicke der Freundinnen! Ich schwebte wie ein Engel über dem Boden und gab Werner zum Dank einen Kuss auf seine Wange.

Dass ich mich das getraut habe! Mein erster Kuss! So ganz spontan!

Zwar kratzten seine Bartstoppeln an meinen Lippen, aber genau das verlieh ihm ja diese Männlichkeit.

Da war es um mich geschehen!

Werner war ein Weltmeister im Knutschen! Es war uns egal, dass wir dabei auf dem Pausenhof nicht alleine waren.

Bei ihm habe ich meine Zurückhaltung verloren.

 

Nach dem Wangenkuss ist Werner aber erst wieder zu seiner Gruppe gegangen und hat sich einen Spaß mit Klaus erlaubt. Hat ihn abgesabbert! Ich habe irgendeinen lustigen Spruch dazu abgeliefert, aber genau kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich war von einer Sekunde zur anderen verknallt. Da hat man rosarote Herzchen vor den Augen und rosa Watte in den Ohren. 

Der Spaßverderber Klaus hat nicht mitgelacht, stand wie versteinert da.

 

Aber im Gedichtevortragen war Klaus wirklich super. Selbst, wenn die Klasse anerkennend klatschte und wir ihm zulächelten, würdigte er keinen von uns eines Blickes.

Klaus war irgendwie sonderbar.

Und nach den Sommerferien vollends ein Einzelgänger. Aber dann ist er ja auch weggezogen.

 

Zwischen mir und Werner folgte schnell das Aus.

Er hat mich betrogen! Mit einem Jungen! Habe sie in der Bahnhofsunterführung am Hintereingang schmusend gesehen.

Mein Hass war grenzenlos!

 

Der Feigling hatte sein Schwulsein geschickt verborgen …

aber dann tat er mir eigentlich nur noch leid.

 

Und ich dachte wieder an Klaus.

 

 

ENDVersion, anne zeisig