Von Anne Zeisig

Wäre es beim ersten Mal nicht so einfach gewesen, dann hätte ich vielleicht aufhören können. Aber nun hatte ich Blut geleckt und glich einem Vulkan, der seine tödliche Glut ausspie, wenn der Druck in seinem Inneren unerträglich groß wurde.

 

Ich sah niemals Gesichter! Sehe sie immer noch nicht.

Hörte jedoch fordernde Stimmen: Laut, eindringlich, befehlend, schrill. Höre sie immer noch.

Allen voran meine keifende, nach billigem Fusel stinkende Mutter, deren Antlitz mein Gehirn als erstes zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte wie eine diffuse wabernde Grimasse im kalten grauen Nebel.

 

Wie sieht ein Gesicht aus mit seiner Mimik? Ich weiß es nicht.

Ritze-Ratsche. Ah!

Flink glitt ich mit dem scharfen Küchenmesser an meinen Armen und Beinen entlang. Diese Erleichterung, wenn warmes Blut floss und der kurze wundervolle Schmerz mir die Erlösung brachte.

Purpurn mein Lebensweg.

 

„Bin so froh, dass aus dem Jungen was Anständiges geworden ist!“, hörte ich meine Mum lallen, die den Namen Mutter nicht verdiente, weil sie in ihrer eigenen Scheiße lag und nach Urin stank. Sich auf ihrem Misthaufen, was sie Leben nannte, stinkend suhlte.

 

Müsste mir unbedingt ein Büschel Haare herausreißen!

Aber die Pflicht ruft.

Andere raufen sich die Haare, bei mir müssen sie raus. Besonders die Pechsträhnen aus Kindheitstagen müssen dran glauben! Danach diese Wohltat, diese menschliche Wärme, die ich mir selber verordne, wenn ich mir mit meinen Haaren über die nackten Arme und Beine streichelte.

Wer sonst wäre in der Lage, mir Zärtlichkeit zukommen zu lassen?

 

Aber es kann auch sein, dass das nicht wahr ist! Einbildung oder Wirklichkeit?

Ich kann mich nicht festlegen.

Ritze-Ratsche.

Jedoch: Das reicht nicht immer aus, wenn der Überdruck sich entladen muss!

Minderwertiges Leben gehört vernichtet.

Und ich stehe um Sieben vor dem Spiegel und schnüre mir mit der Krawatte fast die Kehle zu.

 

* * *

 

„Eines haben alle Frauen gemeinsam. Sie wohnen in einem Behindertenwohnheim mit angeschlossener Werkstatt!“, sagte Kommissarin Rohlender bei der Besprechung des jüngsten Falles. „Und alle haben Selbstmord begangen.“ Kurze Pause. „Aber die Häufung lässt mich an Mord denken.“

 

„Suizid, Frau Kollegin“, nuschelte der Kollege, hob seine Schlupflider und kaute auf seinem Kugelschreiber herum. „Die behinderten Damen haben sich selbst getötet. Bei keiner einzigen Leiche gab es Zeichen von Gewalteinwirkung.“ 

 

Sie zog ihre Augenbrauen langsam hoch und ließ sie schnell sinken, winkte ab. „Diesen Frauen kann man schnell etwas vormachen, etwas vorgaukeln,“

 

Er nahm den Kuli aus dem Mund, legte ihn auf den Schreibtisch ab, um ihn wieder zwischen seine Lippen zu klemmen. „Weiß man, was in deren kranken Hirnen vor sich geht? Vielleicht erscheint ihnen das eigene Leben nicht mehr lebenswert.“

 

„Ekelig“, sagte sie und vertiefte ihre Zornesfalte über der Nasenwurzel.

 

„Was ist ekelhaft an meiner Überlegung, Frau Rohleder?“

 

„Rohlender! Und hören Sie endlich auf, auf diesem Stift herumzukauen!“

 

Er nahm den Schreiber aus dem Mund und besah ihn sich. „Sorry. Kleiner Tick von mir.“ Der Kollege legte ihn auf den Schreibtisch und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

 

Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster des Bürogebäudes, welches einen atemberaubenden Blick über die Stadt bot.

Es erhoben sich Bäume über flache grüne Freiflächen und einen glitzernden See. Die Hochhäuser wirkten darin wie graue, gläserne Fremdkörper.

 

„Was müsste man mir versprechen, damit ich freiwillig auf einer Balkonbrüstung im zehnten Stock umherbalanciere.“ Sie atmete kurz schwer und schnellte herum. „Das tut keine Mensch, der bei klarem Verstand …“

 

„Verstand ist!“, unterbrach  er sie. “Aber ‘unsere’ Opfer sind geistig behindert!“ Abermals nahm er den Stift in den Mund. „Die ticken anders.“ Der Kugelschreiber hüpfte zwischen seinen blassen schmalen Lippen auf und ab.

 

Seine Kollegin dachte laut nach: „Da ist einer gekommen, der hat sie verzaubert, hat ihnen Komplimente gemacht. Ein Gläschen Wein. Oder eher mehr, was die Alkoholbestimmungen ergeben haben.“

 

„Und schon ist es um den wenigen Verstand geschehen“, führte er ihre Gedanken fort.

 

„Aber von von einer Verblendung bis zum sozusagen ‘freiwilligen’ Tod“ ist es dennoch ein riesengroßer Schritt.“ Sie schüttelte ihre 70er-Jahre-Mähne und regulierte die Klimaanlage herunter, weil es sie fröstelte. 

 

„Dass Frauen immer so schnell frieren“, lachte ihr Kollege, öffnete sein Jackett und tupfte sich die feinen Schweißperlen über seiner Oberlippe mit einem Taschentuch ab.

 

Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. „Warum haben Sie sich eigentlich hierher versetzen lassen? In der Provinz hatten Sie es leichter.“ Und zog den Kragen ihrer Polyester-Bluse zurecht.

 

Er entledigte sich seiner Krawatte und legte sie auf den Tisch neben den Kugelschreiber: „Manchmal macht es Sinn, die Zelte hinter sich abzubrechen.“ Und malte Kringel auf seine Schreibtischunterlage. „Meine Mutter war verstorben. Es gab keinen Grund mehr -“ Er stockte.

 

„Aha, ich verstehe.“

Sollte sie in sein Privatleben vordringen? Aber neue Kollegen waren halt immer interessant. Besonders die, welche ein unaufgeregtes Leben dem komplizierten vorzogen.

„Und eine gescheiterte Beziehung, nehme ich an?“

 

Er nickte.

Aber es hatte noch nie eine Partnerschaft gegeben. Er genügte sich selbst.

 

‘Er schaut mich nie an’, dachte sie kurz.

 

“Was haben die Gespräche mit den betroffenen Eltern ergeben?“,führte sie das Gespräch auf beruflicher Ebene fort. Und fragte sich, ob sich unter seiner Kopfbedeckung eine Glatze befand. Lächelte innerlich über diese vermeintliche Eitelkeit, denn ein attraktiver Mann war er nicht mit seinem Doppelkinn und der Fülle am Bauch.

 

„Alle verwaisten Eltern klagen an, dass die jungen Frauen in den Wohngruppen nicht ausreichend geschützt seien. Könnten nach Feierabend machen, was sie wollen.“

 

„Das verstehe ich“, sagte die Rohlender, „es sind Erwachsene.“ 

 

„Erwachsene mit Einschränkung“, antwortete er.

Sie schüttelte vehement ihren Kopf. „Auch Behinderte haben ein Recht auf ein selbstständiges Leben.“ Es folgte ein leises Räuspern.

Sie wischte sich mit dem angewinkelten Handrücken eilig ein paar Haare aus den Augen und blickte in die Berichte der Pathologie.

„Bei dem letzten Opfer hat es allerdings Spermaspuren gegeben. Das ist neu. Aber es gibt keinen Hinweis auf Verletzungen, welche auf eine Vergewaltigung hinweisen würden.“

 

„Auch Sex gehört zu diesem eigenständigen Leben, nehme ich an.“

 

Die Rohlender bemerkte abermals sein starkes Schwitzen.

“Sie können gerne kurzärmelige Polo-Shirts tragen. Es gibt keinen Dress-Code auf unserem Revier.“

 

* * *

 

Sie war wunderschön mit ihren vollen leicht geöffneten Lippen und dem naiven Glanz in den Augen! Das mit den Lippen und den Augen hatte ich mal irgendwo gelesen.

Innerlich jedoch ein Krüppel mit verirrten Synapsen, die sich wie Wollknäuel unter der Schädeldecke wuselten, kräuselten, kringelten. Und die geordneten Verknüpfungen nicht fanden.

 

„Ich muss den Lötkolben immer auf diese eine Stelle halten, bis er aufhört zu qualmen“, hatte sie ihm ihre Tätigkeit erklärt.

„Und bin alt genug, in der Wohngruppe zu leben.“

Ihr Busen hob und senkte sich verführerisch, schrie danach, liebkost zu werden: „Arbeit ist wichtig.“ Zog züchtig ihren Rock über die Knie. Der Stoff knisterte.

 

„Du bist schön“, hauchte er ihr ins Ohr und fuhr mit dem Zeigefinger sanft von der Kuppe ihres Mittelfingers den Innarm hinauf und hielt an ihrer warmen Achsel kreisend inne. Die zarten Härchen streichelten seine Fingerspitze.

 

„Das kitzelt“, gluckste sie stöhnend, gab ihm einen Kuss und ließ sich entkleiden.

 

„Warte ab“, raunte er sonor, „gleich wird es noch schöner.“

 

„Ich hatte noch nie so kribbelige Gefühle da unten“, hauchte die junge Frau.

Und ihr lautes „Schön!“ ,dröhnte in seinen Ohren wie Lava, sie sich zäh bergab schob, als er sich in sie ergoss. Matt und keuchend auf ihrem Leib ruhte, bis ihr Schweißgeruch ihn ekelte.

Der Gestank seiner Mutter!

 

Und sie zog bedächtig ihr Höschen hoch, als sie ihm auf den Balkon folgte, wo der Mond in seiner vollen Rundheit am Himmel stand.

 

„So schön hell ist er“, schwärmte sie, „da will ich auch gerne mal hin!“ 

 

“Wenn du zum Mond willst, musst du springen.“ Zart streichelte er ihren Nacken, setzte abermals ein Glas Wein an ihre Lippen und half ihr auf die Betonbrüstung.

 

„Du musst einfach springen.“ Er ließ sie los. „Dann erlebst du das Kribbeln noch viel besser.“

 

Die junge Frau blickte hinunter und wankte. „Aber der Mond ist doch da oben.“ Sie streckte ihren Arm und den Zeigefinger aus.

 

„Wenn du unten angekommen bist und alles um dich herum schwarz wird, dann wirst du in den Himmel zum Mond kommen.“

 

Seine Mutter schmorrte hoffentlich in der Hölle.

 

Die junge Frau verlor ihr Gleichgewicht.

 

Er nickte. „Ah!“

 

* * *

 

„Alle Hotelzimmer hat er mit gefälschten Pässen angemietet“, sagte die Kommissarin und hatte sich über die Akte gebeugt. „Der Mann hat offenbar Beziehungen zu einer gewissen Szene!“, sagte sie etwas lauter und sah ihn direkt an.

 

Ihr Kollege hielt sich die Ohren zu: „Sie müssen nicht so keifen!“

 

Lief aus dem Büro heraus auf die Toilette, schloss sich in eine Kabine ein, setzte sich keuchend auf den Klodeckel, die schnellen Schläge seines Herzens dröhnten in den Ohren, das Blut rauschte wild durch sein Venengeflecht.

Er schob hastig den Ärmel des Sakkos hoch und zog zitternd das Küchenmesser aus dessen Tasche.

Ritze-Ratsche!

Ah!

Das tat gut.

Und sein Puls verlangsamte sich endlich.

 

ENDversion