Von Florian Ehrhardt

Das schöne Mädchen liegt in meinen Armen. Ich fühle, wie sie zitternd einen Atemzug nach dem anderen ausführt. Ihre Venen am Hals stehen hervor. Ich lege eine Hand auf die Ader, die dort pulsiert. Mit der anderen Hand streiche ich über ihre lockigen, schwarzen Haare. Wir liegen nackt im hüfthohen Gras und warten. Wahrscheinlich sind wir uns selbst nicht sicher, auf was wir warten, aber eigentlich liegt die Antwort auf der Hand. Denn heute ist Sonntag, der erste September 2019. Gleichzeitig ist aber auch Sonntag, der letzte Septembertag überhaupt. 

 

Sie öffnet ihre leuchtenden, braunen Augen und sieht mich an. Für einen kurzen Moment hält unser Schweigen noch an, schließlich ist sie es, die das Schweigen bricht: „Liebst du mich?“

Meine Antwort kommt sofort: „Natürlich! Warum sollte ich dich plötzlich nicht mehr lieben? Du bist der Sinn meines Lebens! Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt!“

„Gut. Ich liebe dich nämlich auch.“ Sie richtet sich langsam auf und sitzt jetzt neben mir. 

Ich rutsche etwas unbeholfen durchs Gras und setze mich so hin, dass ich ihr in die Augen blicken kann, während ihr Duft zu mir herüberströmt. Für einen kurzen Augenblick können wir unsere Spiegelbilder in den Augen des anderen sehen. Noch ganz kurz halten wir der Spannung stand, dann bricht unser Widerstand und wir schließen die Augen. Kommen uns näher. Ihr Atem wird noch schneller, ich fühle, wie er mir entgegenkommt. Und endlich trifft Haut auf Haut. Das Feuerwerk in meinem Kopf beginnt erneut, aber diesmal brennen alle Böller innerhalb von Millisekunden ab und lassen mein Hirn ganz kurz verdampfen. 

Oder hat es sich nur auf eine Reise durchs Universum gemacht? Denn plötzlich scheine ich zu schweben. Es ist dunkel und hell gleichzeitig, ich habe einen Tinnitus, der aber wie klassische Musik klingt. Sterne funkeln irgendwo, sie dehnen sich aus, werden zu roten Feuerbällen und fallen schließlich in sich zusammen. Mein Leben zieht an mir vorbei und plötzlich bin ich zurück auf der Wiese. Wir geben ‘nen Fick auf Zecken und rollen über das überraschend weiche Gras. Die Prozedur wiederholt sich. Wieder werden aus Küssen hektische Bewegungen. Wir sind süchtige nacheinander, bekommen nicht genug. Plötzlich ist sie wieder auf mir. Sie liebt es, das Kommando zu übernehmen.

„ICH LIEBE DICH!“ kreischen wir uns auf dem Höhepunkt entgegen, damit vertreiben wir die letzten Vögel aus den Bäumen und haben endlich Stille um uns. Aber nur kurz. Es geht weiter. Unersättlich. Wir wollen keine kostbare Minute verpassen. 

 

Aber irgendwann geht auch uns die Kraft aus. Wir liegen vollkommen erschöpft und schweißgebadet nebeneinander.

„Wie viel Zeit bleibt uns noch?“, fragt sie. Mit diesem einen Satz holt sie uns zurück auf den Boden der Tatsachen. Geborgenheit, Romantik und Liebe weichen einem einzigen Gefühl: Angst. 

Zitternd sehe ich auf meine Uhr. Es heißt, dass Küssen die einzige Möglichkeit ist, die Zeit anzuhalten, aber bei uns lief die Zeit eher schneller. Zu schnell. „Weniger als eine Stunde.“, sage ich.

„Glaubst du, er kommt wirklich?“

Ein kurzer Blick in Richtung Himmel liefert die grauenhafte Antwort. Der Asteroid ist kurz davor, die Sonne zu verdunkeln. Er ist noch viel größer, als ich gedacht habe. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Mit Mühe kann ich meinen Blick vom Horror am Himmel abwenden. Verzweifelt suche ich ihren Blick.

„Sei nicht traurig, weil es vorbei ist. Sei glücklich, weil du es erleben durftest.“

Mit Tränen in den Augen bringe ich nur noch ein leises „Ja…“ heraus. Sie war immer schon die Starke in dieser Beziehung.

„Dann lass es uns jetzt tun.“

Ich hole meinen alten Walkman aus dem hohlen Baumstumpf. „Wahnsinn, das antike Ding hat diese verrückte Woche besser überlebt als unsere ganzen High-Tech Smartphones, was?“

Mein Versuch, die Stimmung zu lockern, scheitert kläglich. Sie blickt mich ernst an. „Müssen wir den Plan nochmal durchgehen?“

„Nein.“ Ich schiebe ihr den einen Kopfhörer zärtlich ins Ohr, den anderen bekomme ich. Ich drücke auf Play.

Campino beginnt zu plärren: „Ich würde dir gern sagen, wie sehr ich dich mag…“

Der letzte Revolver in der Stadt ist mit zwei Patronen geladen. Ich werde mich zum Mörder machen, aber sobald die Toten Hosen zur letzten Zeile ansetzen, geht mich das auch nichts mehr an.

„…Worte sind dafür zu schwach…“

 

FEH 08/2019; V1; Ante