Von Marianne Apfelstedt

Kalt, ihr ist so kalt. Sie spürt nur harten, kalten Boden unter ihrem Körper. Die bleischweren Lider öffnen sich ganz langsam. Alles ist schwarz. Als sie sich aufsetzen will, fährt ihr ein scharfer Schmerz in die Hüfte. Keuchend bleibt sie liegen. Ganz langsam versucht sie es wieder, ignoriert die schmerzende linke Seite und rollt sich über die Rechte zum Sitzen hoch. Verwirrt versucht sie die Dunkelheit zu durchdringen.

 

„Wo bin ich?“ Ihr Echo hallt im Dunkeln. „Und wer bin ich?“, wispert sie.

 

Ihre Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, bald schon kann sie Nuancen von Grau und Schwarz unterscheiden. Der Boden ist aus Beton. An ihren Beinen erkennt sie Jeans und schwarze Sneakers, jetzt erst fällt ihr auf, dass sie einen dicken Hoody mit Kapuze trägt. Sie steckt die Hände zum Wärmen in die Kängurutasche. Ihre klammen Finger streifen überrascht ein Stück Plastik in Scheckkarten Größe. Sie hält es direkt vor ihre Augen, kann aber nichts entziffern. Sie braucht Licht.

 

Langsam richtet sie sich auf, stützt sich einen Moment auf die Oberschenkel, um vorsichtig zu prüfen ob sie die eigenen Beine tragen. Mit den Armen weit von sich gestreckt tastet sie sich einen Weg vorwärts. Nach drei Schritten treffen die Fingerspitzen glatte, kalte Oberflächen. Sie tastet. Unter ihren Fingern kann sie raue Fugen und glatte Rechtecke fühlen. Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und lässt den Kopf prüfend zu beiden Seiten wandern. Rechts erscheint ihr die Dunkelheit weniger dicht. Langsam, immer an der Wand entlang, läuft sie vorwärts. Schritt um Schritt. Die Dunkelheit weicht zurück und sie kann ein Ende des Tunnels aus waberndem Grau erkennen. Ein lautes kreischendes Wummern! Sie presst die Hände auf die Ohren. Spürt den vibrierenden Krach durch die Schuhsohlen in ihrem Körper. Beim nächsten Herzschlag weicht das Stakkato zurück. In der wiederkehrenden Stille setzt sie einen Fuß vor den anderen. Am Ende des Tunnels empfängt sie schummriges Grau und auf der Schotterbahn entdeckt sie Gleise. Ein Bild blitzt in ihrem Kopf auf. Ein roter Ring mit der waagrechten Schrift Underground auf blauem Grund.

 

„Wieso bin ich in einem Tunnel der Tube?“

 

Am Rand der City im Keller einer alten Fabrikhalle für Fischkonserven sitzt ein junger Mann mit rotem lockigem Haar, nur mit einer Jeans bekleidet auf dem kalten Betonboden. Das linke Auge ist zugeschwollen, das rechte in wässrigem Blau starrt ohne etwas zu sehen vor sich hin. Der Mundwinkel ist blutig verkrustet. Hände und Füße sind mit Ketten gefesselt. Auf einem Stahltisch in der Ecke liegen zwei Handys, ein MacBook, mehrere externe Festplatten und ein PC.

 

Sie entscheidet sich wieder für die rechte Seite. Endlich zeigt ein diffuses Licht das Ende des Tunnels. Im Licht der Ankunftshalle kann sie die Plastikkarte genauer in Augenschein nehmen. Es ist eine Oyster Card für die London Underground in einer Plastikhülle, auf der Rückseite steckt ein Büchereiausweis für die Canary Wharf Library am Churchill Place. Suchend schaut sie sich um und entdeckt an der Wand neben den Fahrplänen groß BOROUGH Station. Sie setzt sich auf eine Bank und schaut auf die zwei verschiedenen Karten. Irgendetwas aus den Tiefen ihrer Gehirnwindungen möchte ans Tageslicht. Sie atmet tief ein und wieder aus. Langsam zieht sie die beiden Karten aus der Schutzhülle. Sie dreht die Karte der Canary Wharf um und liest „Ivy Edwards, 93 Aspen Grove, London, RM14 2HZ.“

 

„Ivy Edwards“, beim Klang dieses Namens kriecht ihr Gänsehaut den Rücken hinunter. „Könnte ich Ivy Edwards sein?“ Bei Aspen Grove 93 blitzt ein zartgelbes Reihenhaus vor ihren Augen auf. Zielstrebig begibt sie sich zum Ausgang.

 

Der Beagle Shop am Ausgang der Tube kommt ihr bekannt vor. In Aspen Grove entdeckt sie neben vielen großen Wohnblöcken einige Reihenhäuser in Gelb. Bei den Häusern angekommen entscheidet sie sich aus dem Bauch heraus. Treffer! Sie klingelt Sturm. Nichts rührt sich. Wieder taucht ein einziges Bild aus dem grauen Nebel auf. Eine weiße Hortensie mit Terrakotta Topf. Direkt neben der Haustür steht so eine Pflanze. 

 

’Wie bei Granny! Die hat dort immer ihren Ersatzschlüssel versteckt’, denkt Ivy.

 

Sie tastet mit ihren Fingern unter den Blättern der Hortensie. Nichts. Jetzt kippt sie den Topf ein wenig nach hinten und genau in der Mitte kann sie einen Schlüssel ertasten. Der Schlüssel passt, die Tür lässt sich öffnen.

 

Schon beim Eintreten kommt Ivy vieles bekannt vor, der Geruch nach Bohnerwachs ist unverkennbar. Die Wandgarderobe und die alte Lampe sind noch von Granny. Jetzt weiß sie auch wieder, dass sie seit Grannys Tod hier wohnt. Sie lässt die Sneakers vor der Garderobe stehen und geht in die Küche. Plötzlich bemerkt sie das Grummeln in ihrem Bauch. Im Kühlschrank findet sie eine angefangene Flasche Orangensaft. Ivy leert sie in einem Zug.

 

„Warum bin ich in einem Tunnel aufgewacht? Wieso war ich in der Tube?“

 

Sie steigt die Treppen hoch zum Bad, legt die Karten auf das Ablagefach über das Waschbecken und schlüpft aus den Klamotten. Bei den Jeans schaut sie in allen Taschen nach.

 

Sie findet einen Zettel auf dem steht, „Komm zur Bourough Station, heute um 11.30 Uhr K.S.“ „Wer ist K.S? Ich brauch jetzt erst mal eine Dusche.“

 

Unter dem heißen Wasserstrahl wird ihr endlich wieder richtig warm. Beim shampoonieren der Haare bemerkt sie am Hinterkopf eine Beule. Im Spiegel sieht sie einen blauen Fleck auf der linken Hüfte. ’Sieht wie eine Prellung aus, das erklärt den Schmerz.’ Beim Eincremen bemerkt sie einen roten Punkt auf ihrem Oberarm, der bei Berührung schmerzt.

 

Durch die heiße Dusche sind die schmerzenden Muskeln wieder lockerer, dafür brummt ihr Kopf gewaltig. Im Badezimmerschrank sind Schmerztabletten. Sie spült zwei mit Wasser hinunter. Todmüde kuschelt sie sich in ihr Bett und schläft sofort ein.

 

Beim Erwachen hört sie das Telefon klingeln. Sie springt aus dem Bett und rennt nach unten. Als sie den Hörer ans Ohr hält hört sie nur das Freizeichen. Im kleinen Büro neben der Küche findet sie auf dem Schreibtisch einen Notizblock. Sie schreibt die Nummer des letzten Anrufs vom Display auf. Sie kommt ihr vage bekannt vor. Eigentlich sollte hier ihr MacBook stehen. In allen Schubladen und Schränken ist nichts zu finden. Der Scanner steht drüben auf dem Board. Das Ladekabel und die Tasche vom Mac sind auch da, der Rest fehlt. Sie inspiziert das kleine Häuschen Zimmer für Zimmer. Nichts. Weder das MacBook noch ihr iPhone sind zu finden. Gänsehaut breitet sich über ihren Armen aus, bei dem Gefühl einen Fremden an ihrem Schreibtisch zu sehen, der dann jeden Winkel durchstöbert. Fremde Hände die ihre Schubladen herausziehen und ihre Wäsche durchwühlen. Sie schüttelt die Gedanken ab und greift zum Telefon. Als sich bei der 101 jemand meldet erzählt sie vom vermutlichen Einbruch und den verschwundenen Geräten. „Bitte bleiben Sie zu Hause, wir schicken heute Nachmittag einen Officer vorbei.“

 

Jetzt ruft sie erstmal den Anrufer von vorhin zurück. Der Anrufbeantworter einer Melissa Grant meldet sich. Als sie diese Stimme hört rauscht ein wahrer Strom an Bildern und Erinnerungen durch ihren Kopf. Panisch trennt sie die Leitung. Zwei Mädchen mit Zahnlücken und Schultüten, zwei junge Frauen fahren im Cabrio in die Highlands. Sie wählt nochmal Melissas Nummer. 

 

“Hi, hier ist Ivy. Ich brauch dich. Bin letzte Nacht in der Tube aufgewacht, weiß nicht warum. Handy weg, MacBook weg. Melde dich.“

 

In einem Büro hoch über den Dächern der City. Auf dem großen Schreibtisch aus Glas und Chrom steht ein Glas Whiskey. Eine gepflegte Männerhand mit breitem Siegelring fährt sich durch das graumelierte Haar und greift zum Handy: „Haben Sie die belastenden Dateien gefunden?“ „Beseitigen Sie alle Spuren.“

 

Auf dem Weg zum Wohnzimmer entdeckt sie gerahmte Fotos. Auf allen ist Ivy mit einem jungen Mann zu sehen. Er hat lockige rote Haare die ihm in die hohe Stirn fallen, wasserblaue Augen blicken auf einem Foto liebevoll auf Ivy und ein sinnlicher Mund deutet ein Lächeln an.

 

Ivys Herz setzt einen Schlag aus und wieder stürmt eine Flut von Bildern auf sie ein. Sie sieht sich selbst mit Arlow im Bett, streicht über seine Grübchen. Arlow, der ihr stolz vom neuen Job bei Sage Software Industries erzählt und sie beide bei der Planung für ihren Trip durch Europa im Herbst. 

 

Ivy sitzt auf dem Sofa und blättert im Fotoalbum. Bei jeder Seite stürzt eine Flut an Erinnerungen an ihr bisheriges Leben über sie herein. Es ist wie eine Kettenreaktion. Bis dahin ausradierte Flächen füllen sich mit Bildern, Erinnerungen und Gefühlen. Sie schließt die Augen und versucht sich an gestern Abend zu erinnern. Die Seite mit dem letzten Tage bleibt leer. Als es klingelt schreckt sie auf, ihr Herz klopft wie nach einem Marathon. Sie öffnet die Tür und fällt Melissa um den Hals.

 

„Ivy, was ist hier los? Ich dachte du bist mit Arlow unterwegs nach Berlin.“

 

Auf dem Weg in die Küche erzählt sie Melissa von dem vermutlichen Diebstahl, ihrer Gedächtnislücke und dem Erwachen in der Tube. Mit einer Tasse Kaffee setzen sie sich aufs Sofa. Es klingelt. 

 

Ivy öffnet. „Sind Sie Mrs. Ivy Edwards?“, vor der Tür steht ein hochgewachsener Mann im dunklen Anzug. 

 

„Ja. Und wer sind Sie?“ 

 

„Detektiv Ethan Barlow. Kann ich bitte herein kommen.“ 

 

„Sie kommen schon wegen dem Einbruch, das ging aber schnell. Bitte kommen Sie herein! Sie glauben gar nicht was mir die letzten 24 Stunden alles passiert ist.“ 

 

Ivy schließt die Tür und geht mit dem Detektiv ins Wohnzimmer. „Möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee?“

 

„Ja Kaffee hört sich gut an und dann erzählen Sie mir erst mal alles in Ruhe.“

 

Als aus der Küche der Wasserkocher zu hören ist zieht der Detektiv blitzschnell eine Waffe mit Schalldämpfer aus dem Halfter. Melissa sinkt getroffen auf dem Sofa zusammen. Leise schleicht sich Mr. Barlow in die Küche.

 

„Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser?“ 

 

Als sich Ivy zum Schrank umdreht spürt sie ein Stechen im Nacken, das Glas zersplittert auf den Fliesen der Küche.

 

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