Von Daniel Büttrich

„In der Nähe vom Männerwohnheim ham`s einen daschlogn. Übel zugerichtet. Das Gesicht… Wolltet Ihr nicht heute zum Hochzeitstag in die Pizzeria…? Bei dem Anblick vergeht dir der Appetit auf Pizza!“

Wenn der Murnau mich mit einer Leiche begrüßt, werde ich immer leicht grantig. Das legt sich aber mit dem Kaffee, den ich mir freilich trotzdem am Automaten hole, denn ohne Kaffee bin ich selbst eine Leiche.

„Das WhatsApp-Bild brauchst du mir nicht zu zeigen, wir schauen uns die Leiche ja gleich live vor Ort an!“, antworte ich vorsorglich. „So ein Anblick macht mir nix mehr aus, ich bin lange genug im Beruf, Edi. Heute Abend gibt`s so oder so Pizza Quattro Stagioni zum Hochzeitstag.“

„Jawohl, Chef. Nach´m Kaffee Aufbruch?“

„Nach´m Kaffee!“

Der Murnau Eduard ist eine treue Seele. Nachdem sämtliche seiner Vorfahren im Polizeidienst waren, kam für ihn naturgemäß auch nichts Anderes in Frage. Er wurde quasi in den Polizeidienst hineingeboren. Der Murnau macht, was man ihm sagt, und dennoch hat er seinen eigenen Kopf. Ich meine das aber nicht negativ. Du brauchst so Leute. Ich sehe ihm sofort an, wenn er eine Frage hat. Am Stirnrunzeln. Und wenn ich ihn dann frage, ob er eine Frage hat, fragt er mich. Eigentlich ein geniales Zusammenspiel. Oder sein Gespür für Gefahr. Seine analytischen Fähigkeiten. Der Murnau hat schon Morde vorhergesagt. Einige konnten wir verhindern, logischerweise nicht alle. Der Murnau Eduard hat Umgangsformen und ist ein unaufdringlicher, loyaler Kollege. Ich bin auf dem Papier sein Vorgesetzter. Aber wir sind eigentlich ein Gespann, ein Paar, beruflich gesehen. Im Fußball wären wir Overath und Netzer gewesen, quasi Doppelpass in Reinkultur. Wie gesagt: Du brauchst Leute wie den Murnau Edi.“

Der Pröll liegt am Ufer der Isar und sieht übel zugerichtet aus. Sein Oberkörper ist von Einstichen übersät. Neben der Leiche befindet sich ein großer Stein. 

„Damit hat der Täter die Lichter vom Pröll endgültig ausgemacht“, kombiniere ich laut vor mich hin. 

„Eine stattliche Erscheinung, der Pröll! Der Mann ist fast 2 Meter groß und kräftig. Er muss überrascht worden sein“, meint der Murnau Edi. 

Ich deute zur Erklärung auf den Einstich am Herzen.

Während die Spurensicherung sich an der Kleidung vom Pröll und an dem schweren Stein zu schaffen macht, und DNA-Spuren, Fingerabdrücke und Textilfasern sichert, erscheint es dem Murnau Edi und mir naheliegend, als Erstes den Zimmerkollegen vom Pröll zu befragen, den Edenbichler Franze. Also brechen wir zum Männerwohnheim auf. 

„A Drecksau war er, der Pröll. Hat gmoant, er warat was Bessers. Isser aber ned gwesn, im Gegenteil. Hat a in die Büsche gsoacht wie jeder Andre, hat an krummen Rüssel und Mund und Augen g‘habt. Lassts mi in Ruah mit‘m Pröll, i bin froh, dass er weg is. Um den is ned schad, den vermisst wirkli koana! Kümmerts Eich um wichtigere Ding!“

„Warum war der Pröll denn so eine Drecksau?“, frage ich nach.

„Ahhh“. Der Edenbichler Franze winkt ab.

„Weil er d`Leit bschissn hat. Menschlich bschissn. Und um Geld. Hat oan auf den Ärmsten von Allen g‘macht, grad am Anfang, wo er nei war. Hat sich Geld gliehn und niemals z‘ruckgebn. Da hat er jeden o‘gwinselt. Dabei hat er a Geliebte ghabt, die für eam auf‘n Strich gangen ist. Die hat er unter Druck gsetzt und das Geld kassiert. G‘logn hat er. Nach oben buckelt, nach unten treten. So oana war des. A foischer Hund!“

„Was heißt unter Druck gesetzt?“

„Gschlogn hat er sie. Und bedroht.“

„Und woher weißt du das?“, fragt der Murnau.

„Jeder hat‘s gwusst. Hat sich rumgesprochen. Und als mir dem Pröll nix mehr geliehen ham, is‘ er aggressiv gworden. Hat öfter gsoffen wie ein Schwein und dem Porno-Paule oane zimmert. Da war es endgültig aus. Ab da hat auch der größte Depp an Pröll g‘hasst. Weil der Pröll a Sau war, und es endlich jeder gseng hat.“

„Wer ist der Porno-Paule?“

„Ahh, lasst‘s den Porno-Paule in Ruah. Des is a Engel. Der Friedfertigste und Gutmütigste vo alle. Oana, der koanem was tuat. Da bayerische Dalai Lama.“

„Und wieso heißt er Porno-Paule?“

„Des geht Eich nix o! Lasst‘s an Porno-Paule in Ruah. Und jetz losst‘s mi in Ruah, i hob scho zvui gsagt.“

„Wie heißt seine Geliebte?“

„Chantal.“

„Und wie weiter?“

„Woass i ned. Vo de Madln kennst eh nur an Vornamen, oder? Chantal, werds scho rausfinden wo sie oabeit. A bisserl was miasst‘s scho no selber machen. Servus, i muss brunzen.“

Ich starte den Motor unseres Dienstwagens, da hat der Murnau die Chantal schon in den Roten Seiten auf seinem Smartphone gefunden.

„Die hat was. Hat was Unschuldiges, Weiches im Gesicht. Und liebevolle Augen. Der Pröll muss wirklich eine Drecksau gewesen sein“, sagt der Murnau.

Im nächsten Augenblick hat er die Chantal schon am Hörer. Ich merke, dass der Murnau Edi unsicher wird und mit zittriger Stimme nach einem Termin fragt.

„Na, keine Erotikmassage. Ich will einfach mit dir reden.“

„Ah so, du bist so a Schüchterner!“

Ich höre, wie sie mit verrauchter Stimme lacht.

„Des werd scho, red‘ ma a bisserl, dann lern ma uns scho näher kennen. Meine Preise kennst du?“

„Äh, ja, die kenne ich.“

Die Chantal nennt dem Murnau, der in dem Moment auf mich nicht wie der Mann und Kollege Murnau, sondern wie der jugendliche Edi wirkt, ihre Adresse.

„Sehr professionell!“, lobe ich ihn.

Der Murnau schaut mich lange an, dann sagt er:

„Danke.“

Das Etablissement im Osten ist uns nicht unbekannt. Wir kennen einige der Damen wegen eines Totschlags vor etlichen Jahren. Ein Freier war mit der Leistung unzufrieden gewesen und hatte einer Dame einen Faustschlag verpasst. Durch den unglücklichen Aufprall war die Frau gestorben. 

Der Murnau überredet mich, dass ich ihn alleine mit der Chantal sprechen lasse.

„Wenn wir zu zweit kommen, macht sie sofort zu. Glaub‘s mir.“

Als der Murnau länger als eine halbe Stunde weg ist, denke ich an meinen Hochzeitstag und das geplante Abendessen beim Italiener.

„Der hat doch Frau und zwei Kinder. Murnau, Murnau… Der wird doch nicht…“, sage ich mir. Da öffnet sich die Tür und der Murnau Edi springt dynamisch aus dem Gebäude heraus. Ich schäme mich, ihm insgeheim eine solche Schandtat zugetraut zu haben.

„Die war es definitiv nicht. Eine ganze Packung Taschentücher hat sie verheult“, meint der Murnau.

„Es gibt Frauen, die ein ausgeprägtes schauspielerisches Talent haben. Männer freilich auch“, antworte ich gelassen.

„Na, die war es nicht. Die Nachricht hat sie vollkommen überrascht. Die Chantal, die in Wahrheit Veronika heißt, hat auf mich authentisch gewirkt. Außerdem hat sie ein Alibi. Zur Tatzeit war sie im Einsatz, das prüfen wir gleich nach. Die Chantal, also die Veronika, kennt übrigens den Edenbichler Franze. Der war einmal als Kunde bei ihr. Als die Chantal den Pröll im Wohnheim besucht hatte, soll der Edenbichler Franze ein Auge auf sie geworfen haben. „Du erinnerst mich an meine Oide. Die war a so sche wie du, bevor sie zum Saufen o‘gfangt hat“, hatte er zu ihr gesagt, als der Pröll auf dem Scheißhaus war. Und dann war der Edenbichler Franze eines Tages bei ihr im Salon. Hatte kaum Geld dabei, aber die Chantal hat ein weiches Herz. Und der Edenbichler Franze hatte ihr leid getan. So hat es für einmal Blasen gereicht. Der Edenbichler Franze ist kein Unmensch, hat die Veronika gesagt. Der Edenbichler Franze war es nicht, meint sie. Aber es gibt ganz Andere im Wohnheim, sagt sie.“

Ich schaue den Murnau Edi lange Zeit an. Er wirkt entspannt auf mich.

„Ganz schön offenherzig, die Chantal.“

„Veronika!“, sagt der Murnau.

„Ja, Veronika… Die Veronika war es also nicht, Edi, weil sie so ein weiches Herz hat. Und der Edenbichler Franze auch nicht, weil er kein Unmensch ist. Und der Porno-Paule schon einmal gleich gar nicht, weil der bayerische Dalai Lama keinen Mord begeht.“

„Das sehe ich auch so, Chef!“, bestätigt der Murnau.

„Ich schlage vor, wir kaufen uns jetzt eine Leberkässemmel und beschäftigen uns ab morgen mit einem anderen Mordfall. 

„Fahr ma!“, sagt der Murnau, und ich trete aufs Gaspedal.

Am nächsten Tag besuchen wir noch einmal das Männerwohnheim. Auch wenn der Edenbichler meinte, dass der Porno-Paule keiner Fliege etwas zuleide tun könne, möchten wir ihn befragen. Im Wohnheim werden wir heute allerdings wie ungebetene Gäste behandelt. 

„Der Paule is für mehrere Tage bei Spezln. Na, wiss ma ned, wann er wieder z‘ruck kommt. Na, wo genau, wiss ma auch ned. Irgendwo in Niederbayern.“ 

„Internationale Fahndung. Interpol.“, meint der Murnau Edi verschmitzt, als wir wieder in unseren bayerischen Dienstwagen einsteigen. 

„Ich glaube“, erhebt der Murnau getragen seine Stimme, „dass der Porno-Paule schon längst in Tibet ist. Beim Dalai Lama.“

Ich muss lachen. Eine junge Frau auf dem Fahrrad bleibt neben unserem Fahrzeug stehen. Ich kurble das Fenster herunter. 

„Ich wollte Ihnen nur sagen, dass mich Polizisten wie Sie, die so befreit lachen können, immer wieder erfreuen! Bleiben Sie, wie Sie sind!“

„Danke sehr, vielen Dank!“, freue ich mich über das nette Kompliment. 

„Die Chantal hat doch einen Ex. Was ist mit dem?“, grübelt der Murnau. 

„Der lebt mit seiner neuen Familie in Mühldorf. Frau und kleines Kind. Unwahrscheinlich“, erwidere ich. 

Im Präsidium erwartet uns Besuch.

Ein Mitte 30-jähriger, kaum gepflegter Mann mit langen Haaren und einem Oberlippenbart sitzt vor unserem Büro. 

„Sind sie der Kriminaloberinspektor Fink?“, fragt der junge Mann.

„Richtig.“

„Ich war es. Ich habe den Typen an der Isar umgebracht. Ich war total schlecht drauf an dem Abend. Von Freundin getrennt, im Job läuft`s scheiße. Ich geh spazieren, da läuft er mir in den Weg. Er sagt kein Sorry, beschimpft mich stattdessen. Da bin ich ausgeflippt. „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. Wenn du so was in der Zeitung liest und du kein Unmensch bist, dann stellst du dich. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Es tut mir leid, dass er gestorben ist. Aber er war eine Drecksau, und eigentlich war es Notwehr.“

Ich nicke dem Murnau erleichtert zu. Wir haben bislang noch jeden Fall gemeinsam gelöst, denke ich mir, und freue mich auf die mittägliche Leberkässemmel. 

 

– 2. Version –