Von Ingo Pietsch

„Detektiv Gerri“, das klang in Gerris Ohren echt gut. Doch seine Freunde hatten ihn ausgelacht, über seinen Berufswunsch und waren schon zur Eisdiele vorgerannt.

Für einen Vierzehnjährigen hatte er zu viel auf den Rippen und das machte ihm bei der Hitze schwer zu schaffen.

Gerris trottete los. Wahrscheinlich kamen ihm seine Freunde schon wieder entgegen, ehe er die Eisdiele erreicht hatte.

Schwer atmend und völlig durchgeschwitzt lehnte er sich an den schmiedeeisernen Zaun eines Hotels.

Plötzlich hörte er von oben einen lauten Schrei, der näher kam und abrupt endete.

Gerris sah hoch und erblickte den Hinterkopf eines Mannes, der gerade von den Zaunspitzen aufgespießt worden war.

Gerri starrte schockiert und wusste nicht, ob er schreien, weinen oder lachen sollte.

Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm, dass dies eine Szene aus einem der vielen Horrorfilme war, die er verbotenerweise gar nicht hätte sehen dürfte.

Die ersten Passanten riefen um Hilfe.

Gerri schaute nochmals hoch und erkannte an dem Balkonfenster, aus dem Mann vermutlich gefallen war, eine Gestalt hinter der Gardine verschwinden.

Er hätte schwören können, dass es ein junger Mann gewesen war, der die Uniform des Hotels trug.

Mit gesenktem Blick schlich Gerri am Zaun entlang in den Eingangsbereich des Hotels, in dem schon alle panisch durcheinander liefen und ihn gar nicht bemerkten.

Gerris tat so, als wäre er ein Gast des Hotels, setzte sich in einen schweren Sessel der Lounge und schnappte sich eine Zeitung. „Vietnamkrieg beendet“, prangte auf der Titelseite.

Gerri beobachtete die Menschen, die um ihn herumwuselten, um mehr zu erfahren. Da war zum einen der Concierge, der ständig den Hörer auf das Telefon knallte, weil er andauernd mit dem Finger von der Wählscheibe abrutschte.

Ein älterer Herr konnte keinen Kugelschreiber finden, um seinen Scheck zu unterschreiben.

Und aus dem Aufzug trat ein Page, der seine Uniform zurechtrückte und seinen Hut gerade schob.

Wenn Gerri nicht alles täuschte, war das der junge Mann, den er am Fenster gesehen hatte.

Als er Gerri passierte, zog der sich die Zeitung vors Gesicht.

Betont unauffällig folgte er dem Pagen mit seinem Blick.

Der nahm einen großen Koffer in Empfang und folgte dem Gast zur Rezeption.

Dann gingen sie zusammen zum Aufzug und fuhren in die dritte Etage.

Gerri sprang auf und fuhr in dem Durcheinander ebenfalls in den dritten Stock.

Als die Türen sich dort öffneten, trat der Gast ein, den der Page begleitet hatte, um wieder hinunterzufahren.

Er murmelte etwas vor sich hin, dass er sich das Nachtleben von Hamburg anschauen wollte und dass es wahrscheinlich sehr spät werden würde.

Gerri ging den großzügigen Korridor entlang, der in regelmäßigen Abständen von riesigen Zimmerpflanzen gesäumt war, hinter denen man sich prima verstecken konnte.

Vor einer der Türen stand ein Service-Wagen, beladen mit Handtüchern, Waschlappen und Toilettenpapier.

Gerri ging daran vorbei, als es an der Tür neben ihm zu rascheln begann.

Er schaute hinunter und sah, wie eine goldene Krawattennadel durch den Schlitz unter der Tür geschoben wurde.

Gerri lief ein Stück zurück und hockte sich hinter eine Pflanze.

Ein Stapel 50 Mark Scheine, folgten der Nadel.

Gerri hielt die Luft an. Durch die geschlossene Tür kam der Page. Wie in Zeitlupe glitt er durch das Holz. Einzig dort, wo die Knöpfe seiner Jacke und seiner Mütze saßen musste er an dem Stoff zerren, damit er nicht hängen blieb.

Der Page atmete tief durch.

Dann versteckte er seine Diebesbeute zwischen den Handtüchern und rollte den Wagen in Gerris Richtung.

Der sprang auf und lief so schnell ihn seine kurzen Beine trugen zum Aufzug. Panisch hämmerte er auf den Knopf, doch die Anzeige oberhalb der Tür sagte ihm, dass er nicht rechtzeitig wegkommen würde.

„Warte Junge! Wir können doch darüber reden und teilen!“, rief ihm der Page hinter her.

Gerri blickte sich ängstlich um. Hier würde er kein Versteck finden. Aber am Ende des Korridors war die Notausgangstreppe.

Er stürmte los und blickte sich um: Der Page war ihm dich auf den Fersen.

„Du dreckiger kleiner Bengel! Ich kriege dich!“

Da war Gerri schon durch die Tür und hatte die ersten Stufen genommen. Sein Herz hämmerte ihm bis zum Hals und wahrscheinlich hatte er einen neuen Rekord beim Hundert-Meter-Lauf aufgestellt.

Er fiel auf seinen Hosenboden und rutschte einen Teil Treppe nach unten. Mit schmerzendem Gesäß schaffte er es in die Eingangshalle.

Ganz knapp hinter ihm der Page.

Gerri sah noch einmal zurück und bemerkte, dass der Page stehen geblieben war. Gerri wurde langsamer und rannte, ohne es zu merken, in einen ganzen Pulk Polizisten.

„Ruhig Blut, junger Mann“, sprach ihn einer der Uniformierten an.

Gerri schaute sich gehetzt um und hörte wie ein anderer zu einem dicken Mann mit Schnauzer und Hut mit breiter Krempe sagte: „Kommissar, es muss Selbstmord gewesen sein. Die Tür war von innen verriegelt und alle Zweitschlüssel befanden sich bei der Rezeption.“

„Fehlt irgendetwas?“, wollte der Kommissar wissen.

„Wissen wir noch nicht. Das Opfer war allein hier.“

Der Kommissars nickte.

„Ich glaube es war kein Selbstmord“, stotterte Gerri.

„Wie kommst du darauf?“, fragte der Kriminalbeamte.

„Der Page war`s. Ich war draußen, als der Mann vom Balkon fiel. Ich habe den Pagen oben am Fenster gesehen. Er hat ihn bestimmt geschubst. Weil er ihn beim klauen überrascht hat.“

„Aber das Zimmer war von Innen verschlossen. Hat er sich vielleicht durchs Schlüsselloch gequetscht?“, wollte der Polizist wissen.

„Er kann durch Wände gehen“, antwortete Gerri verschwörerisch.

Die Polizisten um ihn herum lachten laut.

„Und woher weißt du das?“, fragte der Kommissar.

„Ich habe beobachtet, wie er aus einem anderen Zimmer kam. Vorher hat er Geld und eine Krawattennadel unter der Zimmertür hindurchgeschoben und dann in einem Service-Wagen versteckt. Er scheint irgendwie mit Metall Schwierigkeiten zu haben, als er durch die Tür ging. Dann hat er mich bis hierher verfolgt.“ Gerri sah sich um, aber der Page war verschwunden.

„Wenn das wirklich stimmt, wird er bestimmt türmen.“ Der Kommissar befahl zwei seiner Kollegen außen um das Hotel zu gehen. Dann rief er den Concierge zu sich: „Wo sind hier die Mitarbeiterumkleiden?“

Der Concierge wies ihnen den Weg.

Zusammen gingen sie in den Personalbereich.

Da kam schon der Page auf den Flur gerannt, eine Tasche über der Schulter. Er erkannte, dass er verfolgt wurde und ließ sein Diebesgut auf den Boden fallen, dass es aus der Tasche fiel. Dann schob er sich einfach durch die nächste Wand.

„Das gibt es doch gar nicht. Stehen bleiben!“, rief der Kommissars.

Doch es war zu spät, der Page war endgültig verschwunden.

„So ein Mist!“, der Kommissar und seine Kollegen eilten zum nächsten Ausgang und sahen, wie die anderen beiden Polizisten den Flüchtigen zu Boden geworfen hatten und ihm Handschellen anlegten.

„Die werden mich nicht lange aufhalten.“, schrie der Page. „Und dich Bürschchen, werde ich schon noch kriegen!“ Mit einem Klirren fielen die Handschellen zu Boden.

Der Page verpasste einem der Polizisten einen Stoß mit seinem Ellenbogen in dessen Rippen. 

Er wollte unter allen Umständen fliehen, doch der Kommissar bewegte sich plötzlich mit einer Geschwindigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte, und schlug den Täter nieder.

„So, der ist erst Mal für eine ganze Weile bewusstlos. Jetzt haben wir wenigstens Zeit, um uns zu überlegen, was wir mit ihm machen. So einfach wegsperren dürfte ziemlich schwierig werden. Gute Arbeit, mein Junge. Willst du später nicht vielleicht auch zur Polizei gehen? Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen.“

Gerri grinste über beide Ohren. „Detektiv Gerri“ klang schon mal gut, aber Kommissar Gerhard Otto klang noch viel besser.