Von Johannes Pelnasch

Er hing halb über dem Abgrund. Die Finger seiner rechten Hand krallten sich in eine Felsspalte. Wenn er nicht bald einen Halt für seine linke Hand fand, so dass er sich hochziehen konnte, würde er abstürzen. Verzweifelt tastete er umher. Endlich! Seine Hand konnte die Wurzel einer Krüppelkiefer greifen. Langsam zog er sich in die Höhe.

Die Kugel durchschlug den vollen Rucksack auf seinem Rücken, wurde zwar abgebremst, hatte aber immer noch genug Durchschlagskraft, um ihm das Rückgrat zu zerschmettern. Der Schmerz flammte durch seinen Körper, ein Schrei erstickte in seiner Kehle, die Finger lösten sich und er fiel. 

Den Aufschlag in der Tiefe der Schlucht spürte er schon nicht mehr.

Auch nicht, dass er durch einen engen Felsspalt in eine durch Schmelzwasser ausgewaschene kleine Höhle fiel, die durch niedriges Buschwerk überwachsen war. 

Das Echo des Schusses rollte mehrmals durch die Schlucht. 

 

***

 

Der Bauingenieur schaute an der wachsenden Mauer des geplanten Stausees empor. Der kräftig fließende Bach im Grund des Tales würde den See in 30 Monaten gefüllt haben und die weiter unten gelegene Stadt mit Wasser versorgen. Es war ein lang gehegter Wunsch der Bevölkerung, der hier endlich in Erfüllung gehen sollte. Ein paar kleinere Sprengungen an den Felswänden waren noch nötig, aber das war harmlos. Selten konnte ein Tal für ein Wasserreservoir so problemlos erschlossen werden. Durch sein Walkie-Talkie gab er die Sprengung an einer seitlichen Felsnase frei.

Als sich die Staubwolke verzogen hatte, machte sich der Bulldozer daran, die Felsbrocken zusammenzuschieben und auf einen großen Kipplaster zu laden, der dieses besondere, zu den siliziklastischen Sedimentgesteinen der Trias zählende Material, abtransportieren sollte. Wenn das erledigt war, konnte die letzte noch offene Lücke geschlossen werden und der Staudamm würde nur noch in die Höhe wachsen.

Ein lauter Ruf unterbrach seine Gedanken. Einer der Arbeiter winkte ihm hektisch zu. Als er die Stelle erreichte, auf die der Mann zeigte, sah er den Grund für die Hektik: Die Knochen einer Hand samt dazugehörigem Arm ragten aus dem sandigen Schutt.

 

Joshua Smith, der Distrikt-Sheriff, betrachtete nachdenklich das Skelett. Das Gelände war weiträumig abgesperrt worden, Geröll und Sand waren abtransportiert, die Arbeiten am Staudamm ruhten. Die Leiche, oder was von ihr übrig war, war freigelegt worden.

Der Sheriff blickte in Gedanken versunken nach oben zur Felsenkante. 

 

Der Mann war, den zerschmetterten Knochen nach, wohl aus großer Höhe abgestürzt. Seitdem waren etliche Jahre vergangen, wie er aus den blanken Knochen schließen konnte. Einige Stoffreste, von einer Hose und einem karierten Hemd, waren noch erkennbar vorhanden – und einige Lederriemen mit Metallschließen, die erst mal Rätsel aufgaben.

Dann kam dem Sheriff die Erleuchtung. Es mussten die Reste eines Rucksacks sein. Aber wo war das Übrige? Und warum war nichts von seinem Inhalt zu finden? Man hatte keinerlei Hinweise auf die Identität des Toten gefunden. 

Er stocherte mit einem Stock im Sand. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Rest Papier, der aus dem Sand ragte. Der Rest einer Banknote. Eines 100-Dollar-Scheins, wie sich herausstellte. Er winkte einem seiner Deputys und bedeutete ihm, tief und gründlich den Sand wegzuräumen, nachdem alles fotografiert worden war und die Reste der Leiche abtransportiert waren. 

Es kamen tatsächlich noch einige Geldscheine, kaum noch erkenntlich, zum Vorschein. Und noch etwas erregte seine Aufmerksamkeit: Ein kleines Stück Metall. Ein zweiter Blick genügte ihm, um zu erkennen, dass es sich um den deformierten Rest einer Gewehrkugel handelte. Daher also das auf ungewöhnliche Art zerschmetterte Rückgrat der Leiche, das nicht zu einer Sturzverletzung so recht passte, wie ihm sofort aufgefallen war.

Seine Gedanken formierten sich zu einem Bild: 

Vor vielen Jahren, vor seiner Dienstzeit hier in diesem Distrikt, hatte es einen Banküberfall gegeben. Es mussten damals zwei oder drei Täter gewesen sein, die eine Viertelmillion Dollar bei einem dreisten Überfall erbeutet hatten. Die Tat wurde niemals aufgeklärt. Von den Tätern und ihrer Beute nie auch nur ein Hinweis oder eine Spur gefunden.

Bis jetzt! Das Bild rundete sich. Einer der Räuber hatte sich wohl mit der Beute oder einem Teil davon aus dem Staub machen wollen. Vielleicht ohne zu teilen, was dem oder den anderen sicher nicht gefiel. Sie hatten ihn verfolgt und konnten ihn stellen. Allerdings waren sie auf der falschen Seite der Schlucht, konnten ihn aber gerade noch sehen und zögerten nicht, ihn zu erschießen, so dass er in die Schlucht fiel. Natürlich beließen sie es nicht dabei, suchten die Leiche ihres Komplizen, sammelten die Beute ein und ließen den Erschossenen der Einfachheit in der Höhle liegen. Das Ganze wurde mit bei dem Sturz losgelösten Felsbrocken und Sand zugeschüttet.

Dann machten sie sich aus dem Staub. 

 

Wer weiß, woher sie gekommen waren und wohin sie verschwanden? 

Da es keinen Hinweis auf die Identität des Toten gab, würde es wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.