Von Ute Scharmann

Die Fakten: eine Frau liegt tot auf dem Fußboden im Wohnzimmer der Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann seit zehn Jahren bewohnte. Auf dem Tisch stehen zwei Weingläser und eine fast leere Rotweinflasche. Die Stereoanlage ist eingeschaltet, im CD-Player befindet sich eine CD mit Klavierkonzerten von Schumann und Grieg.

Todesursache: Schlag auf die Schläfe mit einem harten Gegenstand; keine Tatwaffe am Tatort; keine Einbruchsspuren an Türen oder Fenstern.

 

Eintritt des Todes nach Obduktionsbericht: 22 Uhr 40.

 

Der Ehemann informiert um 7.30 Uhr die Polizei, dass er soeben seine tote Frau aufgefunden habe. 

Seine Aussage: am Vorabend habe man gestritten, woraufhin er gegen 22 Uhr die Wohnung verlassen habe und ca. eine Stunde durch den nahegelegenen Park gelaufen sei (seine übliche Reaktion nach einem Streit).  Als er in die Wohnung zurückkam, hörte er Klaviermusik aus dem Wohnzimmer (ihre übliche Reaktion nach einem Streit). Er sei daraufhin in sein Arbeitszimmer gegangen und habe die Nacht dort auf dem Sofa verbracht. Am Morgen habe er seine Frau leblos im Wohnzimmer gefunden. 

 

Die Polizei steht vor einem Rätsel – ich auch. Sie verdächtigen mich – angeblich ist in solchen Fällen der Ehemann immer der erste Verdächtige. 

Worüber haben Sie gestritten? Was war der Anlass für den Streit? Gab es häufig Streit? Wann haben Sie die Wohnung verlassen? Warum haben Sie die Wohnung verlassen? Warum sind Sie bei Dunkelheit durch den Park gelaufen? Welche Strecke sind Sie gegangen? Haben Sie jemanden getroffen? Hat Sie jemand beim Verlassen der Wohnung gesehen? Hat Sie jemand bei Ihrer Rückkehr in die Wohnung gesehen? War die Wohnungstür bei Ihrer Rückkehr verschlossen? Sind Sie direkt ins Arbeitszimmer gegangen? Haben Sie Geräusche aus dem Wohnzimmer gehört? Hatte Ihre Frau einen Liebhaber? Haben Sie eine Geliebte?

 

Sie haben die Wohnung durchsucht, PCs und Handys durchsucht, meine Kleidung untersucht. Sie haben die Nachbarn befragt, Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen. Sie haben eine Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zur Aufklärung beitragen. 

Sie haben nichts gefunden und sie werden nichts finden. 

Im Park liegt ein Stein wie jeder andere in einem Gebüsch. Würde man ihn untersuchen, könnte man vielleicht einen Fingerabdruck von mir finden. Aber was würde es beweisen? Dass ich einen Stein in der Hand gehalten habe?

 

Am Abend von Sylvias erstem Todestag gehe ich durch den Park. Ich weiß, dass sie mich beobachten, sie hoffen, dass ich mich verrate. Ich kann nichts verraten, es gibt nichts, was ich verraten könnte.  

Ich setze mich auf eine Bank. 

 

Der Abend vor einem Jahr

 

Sylvia hatte Rotwein mitgebracht. Sie war guter Laune, hatte ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, der Abend begann entspannt. Sylvia vertrug keinen Alkohol, beim zweiten Glas schlugen Stimmung und Stimme in den Nörgelmodus um. 

Du hörst mir nicht zu, du gehst nicht auf mich ein, du liebst mich nicht mehr, du hast mich nie geliebt…

Die ersten zehn Minuten überstand ich noch mit Ruhe, dann hatte ich zurückgehackt: 

Deine Nörgelei geht mir auf die Nerven, du gehst mir auf die Nerven…

Sie: Das ist ja mal wieder ein toller Abend, du verdirbst alles. 

Ich: Wer verdirbt hier was? Warum trinkst du Alkohol, wenn du ihn nicht verträgst?

Sie: Ich trinke noch ein Glas, dann gehe ich ins Bett.

Ich: Mach doch, ich geh noch eine Runde.

Leiser Abgang ohne Türenknallen. 

 

Ich war wütend gewesen – wütend auf mich, auf Sylvia, auf diese Ehe, auf dieses Leben seit zehn Jahren. 

Der Oktoberabend war kühl, das Licht der Laternen im Park wurde durch leichten Nebel verschleiert, Erlkönigs Töchter am finsteren Ort…

Ich kickte ein paar Kieselsteine vor mir her, bis mein Fuß an einen Stein stieß, der deutlich größer war als die übrigen. In der Dunkelheit nicht ungefährlich für einen eventuellen Fahrradfahrer. Ich hatte mich gebückt, um den Stein zur Seite zu legen. Er lag angenehm in der Hand. Er war glatt als hätte ihn ein Meer jahrhundertelang an der Küste bewegt. 

An der Weggabelung entschied ich mich für den Weg zum See. Vielleicht hatte ich den Stein dort ablegen wollen, ihn wieder ans Wasser bringen wollen?

Meine Gedanken waren zurück gegangen. Ein Abend wie viele andere, ein Streit wie viele andere. Ich hasste diese Streitereien, es würde nie aufhören. Ich stellte mir ein Leben ohne Sylvia vor. Ruhig, ohne diese ewigen Stimmungsschwankungen, ohne Streit und Wut aufeinander.

In der Nähe des Ufers nahm ich eine Gestalt wahr, leicht gebückt als suche sie etwas, fast unbeweglich. Sollte ich zurückgehen, eine Begegnung vermeiden? Der Stein lag immer noch gut in meiner Hand, gab mir die Sicherheit einer Waffe.

Beim Näherkommen erkannte ich die leichte Blätterbewegung des Buschs. Mein Arm schwang, die Hand entließ den Stein, er flog, traf den Busch dort wo der Kopf des Menschen gewesen wäre. 

 

Hatte ich dabei an Sylvia gedacht?