Von Hans-Günter Falter

Auf den Pflastersteinen tanzten die Reflexionen des Blaulichts und durchstachen pulsierend die Dunkelheit. Es hatte geregnet und die Straße war gleichmäßig nass. Wie in seinem Traum fühlte es sich an und er dachte, dass er gleich erwachen würde. Er ist doch immer aufgewacht, wenn es geschehen war. Oder? 

Nein, eigentlich wurde er erst wach, nachdem er angesprochen wurde. Wenn der Polizist kam und ihn nach seinen Personalien fragte. Dann schreckte er in seinem Bett hoch, war schweißgebadet und stammelte seinen Namen, während er langsam zu sich kam. 

Jetzt wartete er sehnsüchtig auf diesen Polizisten, damit er endlich aufwachen könnte. Aber die Polizei war noch damit beschäftigt die Straße abzusperren und Schaulustige zurückzudrängen. 

 

Bevor die Polizei mit Blaulicht und schrillem Martinshorn angekommen war, gingen zwei Männer langsam an ihm vorbei und filmten das gesamte Szenarium. Grotesk sahen sie aus mit ihren offen stehenden Mündern und erstarrten Gesichtszügen. Sie bewegten sich wie in einer surrealen Tanzperformance – synchron und vorsichtig. Die Handys hielten sie jeweils in ihrer rechten Hand, die Arme waren dabei leicht gebeugt. Diese geschmeidigen, leichten und grazilen Bewegungen haben sich bei ihm ins Gedächtnis gegraben, weil sie, so wie die ganze Szenerie hier, so irreal waren. 

Die zwei haben jedes Detail mit den Smartphones gefilmt, und obwohl sie offensichtlich von dem geschockt waren, was sie sahen, schien es, als ob sie einen unangenehmen aber notwendigen Job zu erledigen hätten. Oder, als ob sie, einem Instinkt folgend, auf der Jagd wären, und nicht anders handeln könnten.

Dabei machte es ihnen das Gerät erträglicher, denn sie sahen den düsteren Schauplatz nur durch das Display und ignorierten konsequent die absurde Wirklichkeit, die sich vor ihnen ausgebreitet hatte. So relativierte sich die Realität und wirkte wie ein gespenstiger Filmausschnitt, war nur noch das Abbild des Geschehenen direkt vor ihnen auf dieser Straße. Die Realität lag auf der anderen Seite der Handys. Es war die Schnittstelle; es transformierte die unerträgliche Wirklichkeit zu einem künstlichen Abbild. 

 

Die beiden drehten diese eine langsame, behutsame Runde und entfernten sich dann ebenso langsam und katzenartig geschmeidig, ohne den Tatort aus dem Display zu verlieren. 

Als die Polizeisirenen zu hören waren und bevor die ankommenden Beamten die anderen Schaulustigen zurückdrängen konnten, standen diese beiden Männer schon längst auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrten noch immer über Ihre Smartphones auf das Geschehen.

 

Zwei Streifenwagen waren fast gleichzeitig angekommen. Er erinnerte sich an diese junge Polizistin, die aus dem zweiten Fahrzeug ausstieg, die hintere Tür öffnete und ihre Mütze vom Rücksitz holte, um sie umständlich auf ihrem Kopf zu platzieren. Dabei schaute sie intensiv zu ihm hinüber und er hoffte, sie würde zu ihm kommen. Dann fiel ihr Blick kurz auf die Straße vor ihm und sie wandte sich erschrocken, mit einer überraschend schnellen, ruckhaften Bewegung ab, korrigierte nochmals mit beiden Händen ihre Dienstmütze und ging dann mit ein paar schnellen Schritten zu einem Kollegen, der mit einem Passanten auf der anderen Straßenseite sprach.

 

Er stand noch immer, unbewegt, am gleichen Fleck, fühlte sich wie betäubt, alles flog an ihm vorbei, andererseits sog er aber auch alles in sein Bewusstsein auf und war auf eine seltsame Weise sehr wach. So wird es wohl sein, wenn man unter Drogen steht, sagte ihm ein flüchtiger Gedanke. 

Er stellte sich vor, dass die beiden Männer ihr Video live in allen möglichen sozialen und unsozialen Netzwerken teilen könnten. Der Gedanke daran beunruhigte ihn nicht, obwohl es doch sein Werk ist, das sie da ungefragt verbreiteten. 

 

Ein bisschen fühlte er sich wie ein Kulissenbauer, der einen Spielort vorbereitet hat, diesen nun an den Regisseur übergibt und gespannt darauf ist, wie der die Akteure in seinem Bühnenbild agieren läßt. 

Er selbst war jetzt zum Statisten geworden, nachdem er seine initiale, kurze, blutige Performance abgeschlossen hatte und es war unklar, ob und wie er noch weiter in Erscheinung treten würde, ob er überhaupt noch gebraucht würde. Kurz dachte er daran einfach zu gehen, aber er konnte nicht, konnte sich nicht bewegen, war erstarrt. Dabei fühlte er sich aber gar nicht unwohl, im Gegenteil, ihn durchflutete ein wohliges Gefühl. Und er war neugierig darauf zu erfahren, wie es nun weitergehen würde. 

Er hatte dieses kuriose Spektakel angestoßen und immer mehr Akteure traten hinzu und bereicherten die Szene. Und er hatte den besten Platz, konnte alles überschauen, war ganz dicht am Zentrum. War das Zentrum. Nichts konnte seiner Aufmerksamkeit entgehen. 

 

Die junge Polizistin, die ihm irgendwie schon fast vertraut erschien, kam jetzt, zusammen mit einem Kollegen direkt auf ihn zu. Sie blieben vor ihm stehen und schauten ihm in die Augen. Jetzt werden sie nach seinen Personalien fragen und er würde erwachen, fürchtete er. Dieser Gedanke machte ihn etwas bedrückt, er würde dann wieder nicht erfahren wie es weitergeht. 

 

Er schreckte hoch, wie schon so oft nach diesem Traum, und er war wieder schweißgebadet. Aber er lag nicht in seinem Bett, sondern auf einer mit Plastik bezogenen Pritsche in einer Polizeizelle. Und ihm war augenblicklich klar: diesmal war es kein Traum.

Nachdem die Polizei ihn gestern im Morgengrauen auf der Straße festgenommen hatte, folgte ein langes Verhör, obwohl doch eigentlich alles klar war. Er stand schließlich nach der Tat mit blutverschmierten Händen einfach so da, beobachtete alles und wartete ab. Hatte auch noch die ganze Zeit die Axt in seiner Hand.
Seltsam, fand er, warum hatte er die nicht weg gelegt?

Jetzt ließ er sich erleichtert auf die Plastikmatratze zurück fallen und wollte noch etwas schlafen, … vielleicht etwas träumen.  

 

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