Von Daniela Seitz

Liebe Piper,

ich habe überreagiert. Ich brauche dich um klar zu sehen. Ohne dich weiß ich nicht weiter. Hilf mir bitte. Du kannst doch unsere gemeinsame Zeit nicht einfach so wegwerfen.

Wir sind „Purple Velvet“. Nur dein samtweiches Wesen kann mich vervollständigen.

Rede wenigstens mit mir…

Gorden

 

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„Raus aus dem Badezimmer!“, brüllt Gorden, während er mit beiden Fäusten auf die Tür einschlägt.

„Bitte geh“, antwortet Piper unter Tränen und mit ersterbender Stimme.

Sie drückt mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die andere Seite, da das Schloss bei Gordens letztem Wutausbruch zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Warum hatte sie es nicht zwischenzeitlich repariert?

Ihre Hündin Lassie ist bei ihr. Auch sie hat Angst vor Gorden. Sie liegt winselnd in der hintersten Ecke des Badezimmers und scheint es regelrecht zu riechen, wenn sich ein erneuter Wutanfall anbahnt. Piper hat es oft nur rechtzeitig ins Badezimmer geschafft, weil Lassie sich wie ein lebendiges Frühwarnsystem dorthin zurückzog.

„Ich schlage die Tür ein!“, droht Gorden. Er bekräftigt sein Versprechen mit donnernden Schlägen, die noch in Pipers Körper vibrieren. Lange wird sie die Tür ohne das Schloss nicht halten können.

„Oh bitte..Gorden…bitte…hör auf…bitte“, fleht sie ihn an.

Panisch sieht sie sich nach ihrem Notfallplan um. Die Schere! Sie liegt im Badezimmerschrank vor dem sich Lassie zu einem Ball zusammengerollt hat. Viel zu weit weg von der Tür. Extra gekauft, extra geschärft, nur um dann völlig außer Reichweite zu sein. Wie dilettantisch!

„Komm `naus!“

Verzweifelt wirft Piper sich gegen die Tür. Warum hatte sie nach seinem Brief nachgegeben? Es war, als hätte er nach dem Brief wieder einen Fuß in der Tür gehabt. 

Eigentlich hatte er sie nach der ersten Trennung regelrecht verfolgt und mit weiteren Nachrichten überhäuft. Doch ihre Mutter fand das romantisch und redete ihr ins Gewissen, wie sie nur so einen gutaussehenden Mann davon laufen lassen könne. Sie werde ja auch nicht jünger!

Ihre neue Freundin, Gordens Ex, machte ihr unmissverständlich klar, dass sie nicht alle Tassen im Schrank habe, wenn Sie vor Gorden Angst hätte. Niemand sei liebenswürdiger, charmanter und rücksichtsvoller.

Also kehrte sie zu ihm zurück, völlig an sich selbst zweifelnd, dank der Menschen in ihrem Umfeld, die von Gorden instrumentalisiert worden waren. Ihr einredeten, dass sie sich alles einbilde und das mit ihr etwas nicht stimme. Doch das hatte sie damals noch nicht erkannt. Wut über diesen emotionalen Missbrauch, nicht nur von Gorden, gibt ihr neue Kraft.

„Verschwinde! Hau ab! Verpiss dich!“, brüllt sie.

„Fick dich“

„Du dich auch und komm nie wieder!“, kreischt Piper. Ihr Organ überschlägt sich.

Lassie stimmt winselnd in Pipers Schrei ein. Sie hat sehr schlechte Erfahrungen mit großen brüllenden Männern gemacht, bevor Piper den Mischling aus dem Tierheim holte. Piper muss die Oberhand behalten. Schon um Lassies willen. 

Ein erneuter Schlag. Die Tür ächzt. Pipers ganzer Körper zittert unter der Anstrengung.  Dann hört Piper einen dumpfen Knall und das Holz direkt neben ihrem Kopf splittert. Keine Zeit nachzudenken! 

Die Schere! 

Piper gibt die Tür auf und dreht sich um. Sie rennt. Nimmt Geräusche gar nicht mehr wahr.

Die Schere!

Ein dumpfer Schlag auf ihrem Kopf. Piper bricht genau vor Lassie und dem Badezimmerschrank zusammen. Sie spürt ihren Körper nicht.

Die Schere!

So nah! Es wird dunkel. Ein Schatten springt über sie hinweg. Ein wütender Schmerzensschrei. Dann ein herzzerreißendes markerschütterndes Gejaule. Lassie!

Die Schere!

Piper kämpft die Dunkelheit nieder. Sie erreicht die Schere. Dreht sich um. Lassie wehrt sich. Gorden dreht ihr den Rücken zu. Seine Hand blutet von Lassis Biss.

„Nicht Lassie! Arschloch!“

Piper fliegt regelrecht auf Gorden zu, der trotz des Warnrufes keine Zeit mehr findet sich umzudrehen. Piper sticht von hinten auf ihn ein. Wieder und wieder und wieder. Voller Adrenalin und völlig von Sinnen. Blut spritzt durch das ganze Badezimmer. Bis Gorden zusammenbricht. In einer Blutlache. Die Schere in seinem Rücken.

Warum hatte sie so spät erkannt, dass Gorden ein verdeckter Narzisst war? Der Dramen um des Dramas willens inszenierte, weil er es braucht. Der toxische Wutanfälle schon bekam, wenn sie nur seine Ordnung im Küchenschrank durcheinander brachte.

Dieses Mal hatte sie sich getrennt. Endgültig. Sie war aufgewacht. Lies sich nicht mehr von den anderen manipulieren oder von Gorden selbst. Vertraute ganz auf Ihr Bauchgefühl, dass sie seit Monaten anschrie: Verlass Gorden!

War der Preis für ihre Freiheit Lassis Leben?

Sie stürzt zu ihrer Hündin, die ebenfalls in einer Blutlache liegt. So nah bei Gorden, dass Piper einfach nicht mehr zuordnen kann, ob das Blut von Lassie oder von Gorden ist. Lassie leckt ihr die Hand und winselt matt.

„Oh nein, nein, nein, nein…NEIN“.

Sanft tastet sie Lassies Körper ab. Eine Rippe tritt hervor. Unter ihr entweicht Blut aus Lassie.

Sie dreht sich zu Gorden. Ihn muss sie nicht untersuchen um zu wissen, dass er tot ist. Aber sein Hemd lässt sich gut mit der Schere in Streifen schneiden um Lassies Blutung mit einem Verband zu stoppen.

Sie ruft mit ihrem Handy den Notruf an. Kommt der Notarzt auch um Tiere zu retten? Sie streichelt Lassie um sie zu beruhigen und spricht sanft auf sie ein.

„Hallo“

„Piper Langley. 435 Humming Street. New York 163“, ruft sie sobald sie merkt, dass jemand in der Leitung ist. Dann kann sie nicht mehr klar denken.

„Mein Hund stirbt. Retten Sie meinen Hund!“

Blut tropft langsam auf Lassie herunter.

„Was ist denn passiert?“

„Mein Ex …er hat mich angegriffen…mein Hund…“

Piper unterbricht sich. Die Tropfen werden zu einem Strom. Sie packt sich an den Kopf.

„Hallo. Sind sie noch da?“

„Ich blute!“, sagt Piper verwundert, nicht mehr in der Lage auf die Frage zu reagieren.

Erstaunt betrachtet sie ihre Hand, an der nun ihr eigenes frisches Blut klebt. Sie spürt es an ihrer Schulter herunterfließen. Erinnert sich an den Schlag auf den Kopf.

„Am Kopf. Er hat mich am Kopf erwischt“, nuschelt Piper.

Der Hörer wird schwer, Lassie unruhig, die Frau am Telefon sagt irgendwas, doch es ergibt keinen Sinn mehr.

„Hilfe… ich brauche…“

Der Hörer fällt Piper aus der Hand. Sie fühlt sich schwerelos. Einbildung? Der Boden kommt näher. Ohnmächtig liegt Piper da. Lassie winselt.

„Hallo… hören Sie…hallo…Rettung ist unterwegs!“

V2