Von Eva Fischer

Seit seiner Verrentung vor einem Jahr hatte Lobo ein neues Betätigungsfeld gefunden. Verrentung klang in seinen Ohren ähnlich schäbig wie Verschrottung und dagegen musste man aktiv vorgehen.

Nachdem seine Frau Elke den Frühstückstisch abgeräumt hatte und bevor sie das Mittagessen zubereitete, gehörte die Küche ihm, genauer gesagt, der Platz am Küchenfenster, der einen Blick auf die Straße und die benachbarten Häuser ermöglichte.

Mittlerweile kannte er alle Nachbarn und war bestens mit ihren Gewohnheiten vertraut. Er wusste, wie sie hießen, welches Auto sie fuhren, welchen Besuch sie bekamen, wann wer welchen Dackel spazieren führte und wie lange man stehen blieb, um zu plaudern. Leider konnte er nicht verstehen, was geredet wurde, höchstens Bruchstücke. Selbstverständlich stand das Fenster stets auf Kipp und aufmerksame Beobachter hätten ein gewisses Eigenleben der Gardine bemerken können, was nicht durch einen Windzug zu erklären war.

Bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten erzählte Lobo von seinen neuesten Beobachtungen, aber zu seinem großen Unmut interessierte sich seine Angetraute nicht die Bohne für die nachbarschaftlichen Neuigkeiten, tat sie gar als Tratsch ab und war keine Hilfe bei der Suche nach Antworten auf ausstehende Fragen.

Warum war der Sohn des Nachbarn im Haus rechts letztes Wochenende nicht erschienen, was er doch sonst regelmäßig tat? Hatte die junge Nachbarin zwei Häuser weiter nun einen Lover oder nicht?  Es gingen doch offensichtlich zwei Männer ein und aus, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Warum fuhr das junge Ehepaar zur Linken in den Urlaub, ohne seine Rollos herunterzulassen oder für Gießer in seinem Garten zu sorgen? Und das bei der Hitze! Das war doch jammerschade!

„An dir ist ein Detektiv verloren gegangen“, sagte seine Frau an guten Tagen und tatsächlich hatte seine Beobachtungsgabe – oder sollen wir es Neugierde nennen – zu hilfreichen Aktionen geführt, zum Beispiel als er die Tochter eines älteren und alleinstehenden Nachbarn benachrichtigte, da Lobo aufgefallen war, dass die Zeitung vom Vortag immer noch im Postkasten steckte. Sie fand ihren Vater auf dem Boden liegend. Er war beim Treppensteigen gefallen. Gottlob hatte er sich nichts gebrochen und konnte gerettet werden.

 

Dienstags kam die Müllabfuhr und Lobo stellte fest, dass Herr B. seine Mülltonne nicht zurückgestellt hatte. Herr B. war Rentner wie er und lebte allein in seinem Haus. Zwar war es Lobo gelungen, Herrn B. in den einen oder anderen Plausch zu verwickeln, aber leider war dieser nicht gesprächig genug, um Lobo über seine Lebensumstände genauer aufzuklären. Hatte er Kinder? War er geschieden oder verwitwet? Was hatte er beruflich gemacht? 

Lobo stellte die Tonne zurück und beschloss anzuklingeln. Keiner öffnete. Am nächsten Tag versuchte es Lobo erneut, wieder ohne Erfolg. Herr B. hatte nicht erwähnt, dass er verreisen wollte. Außerdem stand sein Auto vor der Haustür.

Am Freitag beschloss Lobo, die Polizei einzuschalten. Es kamen tatsächlich zwei junge Polizisten, die einen Schlüsseldienst beauftragten. 

„Wir möchten Sie bitten, wieder in Ihr Haus zu gehen. Wir kommen später noch auf Sie zurück“, sagten sie zu Lobo, der nun wieder alles von seinem Küchenfenster aus beobachten musste.  

So konnte er sehen, dass wenig später ein Leichenwagen kam und die sterblichen Überreste von Herrn B. abtransportierte.

Die Polizisten hielten Wort und befragten Lobo, ob er etwas über Herrn B. wisse, was Lobo zu seinem größten Bedauern verneinen musste, und ob er etwas Verdächtiges beobachtet habe. Noch wisse man nicht, warum Herr B. gestorben sei. Man müsse erst die Obduktion abwarten, aber da er scheinbar nicht krank gewesen war, sei ein krimineller Hintergrund nicht auszuschließen.

Die Polizei zeigte sich verschlossen wie eine Auster. Auch eine Woche später, der Befund der Obduktion musste doch schon vorliegen, wurden weder Lobo noch die Nachbarschaft über die Ursachen des ungewöhnlichen Ablebens von Herrn B. informiert.

Nach weiteren zwei Wochen wurde endlich das Polizeisiegel an der Haustür entfernt und Lobo sah, wie eine Frau in das Haus ging.

Er beschloss, sich in seinem Vorgarten zu beschäftigen und zu warten, bis die Unbekannte wieder herauskam. Das dauerte ziemlich lange. Lobo hätte in der Zeit seinen Garten umgraben können. Seine Frau hatte nur ein Kopfschütteln für ihn übrig, aber seine Mühe wurde belohnt.

Die Unbekannte entpuppte sich als die Ex des Verstorbenen. Im Gegensatz zu Herrn B. war sie weitaus gesprächiger und es gelang Lobo sogar, sie zu einer Tasse Kaffee einzuladen.  

Nein, sie brauche die Stadt und deren kulturelle, sowie kommerzielle Angebote. Auch Lobo entging nicht, dass die Dame großstädtisch gestylt war. Ihr Mann habe dagegen die Ruhe geschätzt und sich nach seiner Pensionierung in diesem Haus am Stadtrand förmlich vergraben. Das sei nichts für sie gewesen. Man habe sich gütlich und vollkommen friedlich getrennt.

Frau B. war auch bereit, das Geheimnis über das berufliche Vorleben ihres Ex zu lüften. Herr B. hatte in einer Behörde gearbeitet. Wie langweilig! Kinder hatten sie keine. Das Motiv für einen Mord blieb also weiterhin absolut im Dunkeln. Nein, die Polizei habe sich auch ihr gegenüber sehr zurückhaltend verhalten. Man ermittle weiter. Fest stand, dass Herr B. mit einem Gegenstand erschlagen worden war, der allerdings nicht am Tatort aufzufinden gewesen war, und dass er offensichtlich seinen Mörder gekannt hatte, denn es gab keine Einbruchsspuren.

Sie wolle so schnell wie möglich das Haus verkaufen, ob er Interessenten wüsste. Lobo versprach, sich umzuhören. Er witterte die einmalige Chance, nun den Tatort genauer unter die Lupe nehmen zu können.

Tatsächlich gab Frau B. seinem Wunsch nach und gestattete eine Hausbesichtigung. Elke begleitete ihn nicht ganz uneigennützig, denn inzwischen war selbst ihre Neugierde geweckt. „Der hatte ja kaum Möbel“, stellte sie später gegenüber ihrem Mann fest.

Ein Schlafzimmer mit einem großen Doppelbett, ein Wohnzimmer mit einem riesigen Fernseher an der Wand, eine offensichtlich kaum benutzte Küche. Entweder hatte sich Herr B  von Fastfood ernährt oder er war öfter essen gegangen. Aber das hätten die Nachbarn doch bemerken müssen. Gut, er fuhr schon mal weg, wie man an der Abwesenheit seines Autos hatte erkennen können.

Lobo versprach Frau B., sich in der Nachbarschaft umzuhören. Der Verkauf des Hauses bot ihm die willkommene Gelegenheit, mit seinen Nachbarn ins Gespräch zu kommen.

 

Es war eine Win-Win-Situation. Die Nachbarn erhielten Infos von Lobo und dieser wiederum welche von ihnen.

In der Siedlung war man entsetzt, wie ein Mord in unmittelbarer Nähe und völlig unbemerkt hatte stattfinden können. Besonders bestürzt war man über die Tatsache, dass der Mörder noch mitten unter ihnen auf freiem Fuß war. Man hatte reichlich Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. 

Es musste einen Grund geben, warum Herr B. so zurückgezogen gelebt hatte. Er hatte seine Frau verlassen, hatte keine Kinder, also mutmaßte man, er sei schwul gewesen und habe zwielichtige Jungs nachts nach Hause geholt. Dann sei es zum Streit gekommen und der Strichjunge habe Herrn B. erschlagen. Leider hatte man zu keiner Zeit beobachten können, dass Herr B. nachts Besuch hatte, aber nach Mitternacht schliefen ehrenwerte Bürger und so war auch das nicht ganz auszuschließen.

Vielleicht hatte er auch bei der Stasi gearbeitet. Frau M. meinte sich zu erinnern, dass er eine merkwürdige Aussprache hatte, so ostdeutsch irgendwie. Allerdings hatte Herr B. sich grundsätzlich nicht am Nachbarschaftstratsch beteiligt und er hatte bestimmt nie mit Frau M. gesprochen.

 

In den darauffolgenden Wochen heizte sich die Stimmung in der Siedlung zusehends auf. Immer mehr Verschwörungstheorien kursierten und so war es kein Wunder, dass Herr S., der erst vor kurzem zugezogen war, besonders unter die Lupe genommen wurde.

Er erfüllte alle Kriterien eines Verdächtigen. Er lebte als Mann allein in einem Einfamilienhaus und er war dem Aussehen nach Ausländer. Die schwarzen Locken und die dunklen Augen des smarten 40 jährigen hatten den Frauen anfangs gefallen, aber jetzt gingen auch sie auf Abstand. Morgens fuhr er mit seinem schicken Porsche weg, abends kam er nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Er sprach mit niemandem, lächelte nur freundlich, wenn er jemandem zufällig begegnete. Konnte er überhaupt Deutsch? Gehörte er einer sizilianischen Mafia an oder – noch schlimmer – war er ein Terrorist, ein Schläfer, der auf seinen Einsatz wartete? Der berühmte Wolf im Schafspelz? War er vielleicht der Mörder von Herrn B.?

 

Lobo ließen all diese Fragen nachts keine Ruhe und so beschloss er, Herrn S. zu beschatten. Er notierte sich An- und Abfahrtszeiten und während Herrn S.’ Abwesenheit ging er in seinen Garten, was etwas sportliches Geschick erforderte, und schaute durch die Scheibe in das Wohnzimmer. Es war ganz modern und spartanisch möbliert. Leider ließen sich keine Anhaltspunkte finden.

Seine Frau überraschte Lobo eines Tages mit einem Labradorrüden. So konnte er unauffällig zu jeder Tages- und Nachtzeit um das Haus des Verdächtigen schleichen. Seine Frau nahm die neue Entwicklung gelassen hin. Im Grunde war sie froh, dass sein Wirkungskreis nun außerhäusig war.

Während der Spaziergänge kamen Lobo immer neue Ideen. Die nächste Anschaffung würde eine Drohne sein. So könnte er das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer von Herrn M. durch die Scheibe fotografieren.

 

Mittlerweile hatte auch eine junge Familie Interesse am Haus des Verstorbenen geäußert und Lobo wählte die Handynummer von Frau B. Zu seiner Enttäuschung landete er auf der Mailbox. Obwohl er sie dringend bat zurückzurufen, meldete sie sich nicht. War Frau B. in Urlaub gefahren, ohne ihm Bescheid zu geben?

 

Während er mit dem Hund spazieren ging, sah Lobo einen Streifenwagen vor dem Haus des Ermordeten halten. Polizisten versiegelten das Gebäude erneut.

Lobo eilte zu ihnen. „He! Was machen Sie hier?“, hätte er am liebsten ausgerufen. Aber er beherrschte sich und sagte, das Haus stünde doch zum Verkauf.

„Vorerst nicht“, gaben die Polizisten zurück.

„Ja, was ist denn passiert?“

„Es ist nicht unsere Aufgabe, Sie zu informieren, aber Sie werden es bald aus der Presse erfahren.“  

Lobo konnte nur entsetzt auf die Rücklichter des Streifenwagens starren.

Man ließ ihn schmoren und ärgerlicherweise war es seine Frau, die ihm eines Morgens folgenden Zeitungsartikel vor die Nase hielt. Es war eher eine kleine Notiz, die man schnell übersehen konnte.

 

Der mysteriöse Mord in der Waldsiedlung konnte endlich aufgeklärt werden. Die Frau des Ermordeten hat den Mord an ihrem ehemaligen Ehemann gestanden. Der Grund  für das Tötungsdelikt waren Schulden ihrerseits, da sie offensichtlich über ihre Verhältnisse lebte. Ein falsches Alibi hat die Polizei lange im Dunklen tappen lassen, aber ihr neuer Lebenspartner kam in Gewissensnöte und ging zur Polizei.