Von Uta Lemke

Endlich ist der Tag gekommen. Karina spürt es tief in ihren Knochen. Er sitzt vor seinem Fernseher, raucht seine Kippe, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Aber sie lässt sich nicht täuschen, sie weiß, wie er werden kann, wenn er wütend wird. Wenn aus dem so lethargisch vor sich hin vegetierenden Mann ein wildes Tier wird, das sich durch nichts und niemanden aufhalten lässt. Sie weiß, was dann passiert. Ihr Körper weiß es. Jede einzelne Zelle ihres Körpers schreit nach Freiheit, schreit nach Erlösung, schreit nach Rache. Das Messer liegt auf der Küchenzeile, sie kann es durch die verstaubte Fensterscheibe gut erkennen. Wie immer ist das Küchenfenster nur leicht angelehnt. Sie kann die Geräusche des Fernsehers hören, die bis nach draußen in die warme Sommerluft dringen. Ein ruhiger Abend ist es, die Vögel zwitschern, der nahe Fluss plätschert vor sich hin. Ein nichtssagender Abend ist es, einer wie jeder andere, aber heute wird sich ihr Schicksal ändern. Sie öffnet das Fenster, leise und behutsam, klettert hindurch und greift nach dem Messer…

Blut, Blut, Blut überall. Panik bricht in ihr aus. Der Fluss plätschert leise vor sich hin. Nur noch ein paar Zentimeter, dann ist es geschafft. Sie hört sein letztes Stöhnen. Dann Stille. Todesstille. Dann hört sie wieder die Vögel zwitschern, immer lauter und lauter und lauter. Sie lässt los, hält sich die Ohren zu und rennt. Rennt, bis die Bäume um sie herum zu Schemen werden und die Welt langsam zu Dunkelheit zerfließt.

Schweißgebadet wacht Louise auf. Die Sonne scheint durch die Jalousien und lässt den Staub auf ihren Strahlen tanzen. Die Zeiger der Wanduhr nähern sich bedrohlich der 10. „Schon wieder verschlafen.“ Fluchend macht sie sich auf den Weg ins Badezimmer, duscht, schlüpft in ihre Lieblingsjeans, schnappt sich ein halb vertrocknetes Brötchen vom Küchentisch, springt in ihr Dienstauto und rast wie eine Verrückte zum Mordkommissariat.

„Guten Morgen, Chef.“, begrüßt sie ihr immer verdächtig gut gelaunte Kollege Max. Bevor er einen spitzfindigen Kommentar zu ihrer Verspätung machen kann, huscht Louise an ihm vorbei und drängt sich durch den für ihren Geschmack viel zu dicht bevölkerten Flur Richtung Büro. Bevor sie es sich aber mit ihrem frisch besorgten Kaffee gemütlich machen kann, erscheint vor ihren Augen das besorgte Gesicht der Praktikantin, Maja. Durch den Schleier ihrer Müdigkeit dringen Majas Worte nur mühsam. „… kam ein Anruf rein, eine Leiche wurde gefunden, Ecke Hilbertstraße/Maigasse, die Spurensicherung ist auch schon da, Sie und Ihr Kollege werden schon erwartet.“ Plötzlich ist Louise hellwach. Ohne ein weiteres Wort greift sie nach ihren Autoschlüsseln und eilt zurück zum Auto. Max rennt ihr hinterher, setzt sich auf den Beifahrersitz und macht ungefragt das Radio an. „Because I’m happy“, dröhnt es durch die Lautsprecher. „Findest du das nicht ein wenig unpassend?“ Max zuckt nur grinsend mit den Achseln. Entnervt schaltet sie das Radio aus. In Grabesstille fahren die beiden zum Tatort.

Die Leiche ist ein mittelalter Mann, der durchschnittlicher nicht sein könnte. Durchschnittlich, bis auf die zahlreichen Messerstiche im Hals und Bauch natürlich. Max pfeift durch die Zähne. „Das sieht nach einer sehr wutgeladenen Tat aus. Jemand, der ihn kannte?“ „Oder einfach ein besoffener Vollidiot.“, will Louise sagen, aber sie bekommt keinen Ton hinaus. Stattdessen bewegen sich ihre Beine wie von Geisterhand auf die Leiche zu. Der Mann kommt ihr bekannt vor. Aber nicht, als ob sie ihm schon einmal begegnet wäre, mehr wie aus einem Traum. Eine diffuse Erinnerung aus einem längst verblassten Traum. Ihr wird schwindelig. Aus weiter Ferne hört sie die Stimme ihres Kollegen rufen. Dann wird alles schwarz.

Wie benommen starrt Karina auf den zerstochenen Körper vor ihren Augen. Er ist tot, er ist endlich tot. Sie kann ihr Glück kaum fassen. Aber was macht seine Leiche mitten auf der Straße? Sie muss ihn wegschaffen, damit ihn niemand entdeckt. Niemand soll ihn finden, niemand soll ihn beerdigen können. Er muss verschwinden. Warum ist er überhaupt tot? Dunkel erinnert sie sich an die letzte Nacht. Fetzen ihrer Erinnerung schwirren herum, aber weit weg, sie greift danach, aber sie entfliehen ihr. „Wer hat ihn umgebracht, wer könnte ihn umgebracht haben?“, murmelt sie vor sich hin. Dann eine Vision. Ein Küchenmesser, eine Hand, die danach greift, eine Hand, die das Messer in einen weichen Körper sticht, immer und immer wieder. Tränen steigen ihr in die Augen, „Ich war es?“. Sie hat es geschafft. Sie ist frei. Aber die Beweise. Ihre Fingerabdrücke auf der Leiche. Das Blut, das viele Blut. Es muss verschwinden, sofort. Sie geht noch einen Schritt, noch einen. Dann greift sie der Leiche unter die Schultern und zieht.

„Was zur Hölle tust du da, Louise?“ Durch den Nebel hindurch hört sie Max verzweifeltes Rufen. Ein schweres Gewicht zieht an ihr. Nein, sie zieht an ihm. Sie zieht an der Leiche! Was tut sie da? Fassungslos lässt Louise los. Ihre Hände sind blutig. „Ich…“, sie setzt zu einer Erklärung an, aber sie findet keine. Starke Arme greifen nach ihr, sie hört das Klicken von Handschellen. Panik. Dann nichts. Wie durch eine dicke Schicht Wasser nimmt sie die Leute um sich herum wahr, hört ihre aufgeregten Stimmen, spürt dann das Polster eines Autositzes unter sich, hört in ferner Distanz Polizeisirenen. Sie fühlt, wie ihr Bewusstsein zerfließt, es fliegt davon und lässt ihren Körper allein zurück. Dann kommt das Nichts.

Als sie wieder aufwacht, befindet sich Louise in einer Gefängniszelle. Es ist eine dieser trostlosen, aber nicht allzu unbequemen Untersuchungshaftzellen. Kein ungewohnter Anblick, wie oft hat sie schon Verdächtige von hier abgeholt und in den Verhörraum begleitet. Aber irgendetwas ist anders. Wo ist die verdächtige Person? Warum ist sie alleine in der Zelle? Und vor allem: Warum ist die Tür zum Flur abgeschlossen?! Alamiert steht sie auf und schlägt an die Tür. „Jemand hat mich hier eingesperrt. Da läuft jetzt ein Verdächtiger frei rum!“ Eine andere Erklärung hat sie nicht für diese merkwürdige Lage. Aber wie konnte das passieren? Sie fasst sich an den Kopf. Eine Beule. Das muss es sein, er hat sie k.o. geschlagen. Eine leise Stimme in ihr sagt ihr, dass sie niemals so unvorsichtig wäre und dass sie außerdem gar nicht hier sein sollte, dass es schon lange nicht mehr ihr Job ist, Verdächtige in den Verhörrraum zu führen. Louise lässt sie schnell verstummen.

Schritte nähern sich, endlich. Die Tür öffnet sich und sie tritt in das grelle Licht des Flurs. Hände an ihren Händen, ein Klicken. „Nein, das ist nicht richtig!“, will sie schreien, aber sie bekommt keinen Ton heraus. Stumm lässt sie sich in den Verhörrraum führen. „Ich habe doch nichts getan.“, will sie sagen. „Ich bin unschuldig.“ „Das muss ein Irrtum sein.“ Aber wie oft hat sie das schon gehört und nicht geglaubt? Wie oft hat sie diese Sätze schon gehört und sie als leere Worthülsen abgetan? Sie würden ihr nicht glauben. Sie würden ihr nicht einmal zuhören. Und auch wenn Louise keine Ahnung hat, was mit ihr geschieht, auch wenn es sich fürchterlich falsch und ungerecht anfühlt, irgendwo, ganz tief im Innern, weiß sie, dass sie sich nicht einmal selbst glaubt.