Von Miklos Muhi

Der Tritt verfehlte seine Magengrube nur knapp. Robert schrie auf. Seine Schläge trafen nur Luft, bis auf der letzte. Der wurde erfolgreich und schmerzhaft pariert. Er nahm den Schmerz wahr, aber zum Leiden blieb keine Zeit.

 

Er schlug wieder zu. Auch dieser Schlag wurde abgelenkt und ein Tritt traf sein Gesicht. Mit dem Schmerz spürte er die Wärme, die nach unten floss. Er blutete.

 

Die Wut schaltete die letzten Reste seiner Vernunft aus. Er holte sein Springmesser aus der Jackentasche, öffnete es und stürzte wieder nach vorne.

 

Auch der Stich wurde pariert, Robert hörte aber einen Schrei. Er hatte auf einen dumpferen Schrei oder auf sofortige Stille gehofft. Auf Perlas hellem Kleid breitete sich ein dunkler Fleck um ihre linke Hüfte aus.

 

»Was willst du jetzt machen? Du kannst nichts mehr machen! Du hättest dich fügen müssen, als ich dir die Gelegenheit dafür gegeben habe! Jetzt ist es zu spät!«, schrie Robert sie an.

 

Die Straßenbeleuchtung streute ihr teilnahmsloses Licht in die leere Gasse. Als Robert Perla vor etwa fünf Minuten bemerkt hatte, war die Welt noch in Ordnung. Kein Mensch weit und breit, nur eine wehrlose Frau unterwegs. Er malte sich aus, was er mit Perla alles anstellen würde und summte „Ein bisschen Spaß muss sein“ vor sich hin. Jetzt war der bisschen Spaß, der nie richtig begann, vorbei. Sie konnte ihn identifizieren und je länger das Ganze dauerte, desto wahrscheinlicher wurde, dass jemand vorbeikam und die Polizei rief.

 

Robert stürzte sich wieder mit dem Messer in der Hand auf Perla.

 

In dem Moment verschwand Robert aus Perlas Gedanken. Sie sah ihn nicht, sie sah nur seine Bewegungsrichtung und seine Geschwindigkeit. Sie sah Angriffs- und Vitalpunkte, mit deren Hilfe man den Kampf schnell beenden konnte. Ihr Schreck und ihre Aufregung verschwanden und eine kalte, unmenschliche Berechnung erfüllte sie.

 

Als er sie fast erreichte, wich sie ihm aus. Robert spürte den eisernen Griff um seinen Unterarm, dann den Schmerz ausgerenkter Gelenke und überdehnter Sehnen. Er spürte, wie seine Füße die Bodenhaftung verloren, wie die Welt plötzlich kopfstand. Dann löste sich der Griff und er knallte mit Bauch, Brust, Gesicht und eingeklemmter Hand auf den Gehsteig, in sein eigenes Messer.

 

Das letzte, was Robert wahrnahm, war ein stechender Schmerz in seiner Brust. Dann wurde er schläfrig und fiel in Leere und Dunkelheit.

 

*

 

Der Gerichtsaal war fast leer, als die Richter hereinkamen. Es war der Tag der Urteilsverkündung und das Ende einer viel zu langen Quälerei für Perla. Ihr Anwalt setzte schon am Anfang durch, dass sie während des Prozesses auf freiem Fuße bleiben dürfte. Das geschah gegen den Willen der Nebenklage, sprich Roberts wohlhabende Eltern und ihr teurer Anwalt, die fest behaupteten, dass Robert nie zu irgendetwas Böses fähig gewesen wäre.

 

Perlas Anwalt sah stark übermüdet aus.

 

Das Gericht nutzte die vielen vergangenen Verhandlungstage, um die zahllose Gegengutachten der Nebenklage studieren zu können. Einige wurden bei den Verhandlungen vorgetragen und als bei so einer Gelegenheit Gelächter im Gerichtsaal ausbrach (bei der Passage mit der Behauptung, Perla hätte sich mit dem Messer selbst verletzt und dann Robert überredet, das Messer abzuwischen und es in die Hand zu nehmen), beantragte der Anwalt der Nebenklage den Ausschluss der Öffentlichkeit um „die Würde des Verstorbenen zu schützen“.

 

Perla saß mit ausdruckslosem Gesicht auf der Anklagebank. Nun gab es nichts mehr zu tun und sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Während des Prozesses erlebte sie mehrmals Tiefpunkte und ihr Anwalt versicherte ihr jedes Mal, dass sie nicht eingesperrt würde. Sie nickte nur und dachte, dass der Anwalt leicht zu reden hatte, denn er würde auf jeden Fall als freier Mensch das Gerichtsgebäude verlassen.

 

Alle standen auf. Der Richter nahm einen Ordner in die Hand und begann zu sprechen.

 

»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte Perla B. wird vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 33 StGB über Notwehrexzess freigesprochen … «

 

Den Rest verstand sie nicht und hörte auch nicht zu. Sie fühlte sich um mehrere Zentner leichter. Sie hörte auch nicht, wie Roberts Mutter in Tränen ausbrach, sah weder, dass Roberts Vater sich ihr zuwandte und die Faust schüttelte noch das bittere Lächeln des eigenen Anwaltes.

 

Während der endlos erscheinenden Juristerei bekam Perla ihre Fassung zurück. Sie wischte die Tränen aus den Augen und hörte noch den letzten Satz der Urteilsverkündung:

»… Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.«

 

*

 

Einige Tage später besuchte Perla ihren Anwalt in der Kanzlei.

»Gratuliere, Perla. Das ist zwar kein lupenreiner Freispruch, aber immerhin.«

»Danke. Was Ihre Honorare betrifft …«

»Es kommt gar nicht infrage, dass Sie mich bezahlen! Für so etwas nehme ich doch kein Geld.«

»Wieso?«

»Sie haben sich gegen diesen Machoidioten gewehrt und Sie haben dabei, meiner Meinung nach, richtig gehandelt. Vor Gericht hätten Sie gegen diese Nebenklage ohne Anwalt keine Chance gehabt. Ehrensache, würde ich sagen.«

»Was meinen Sie mit nicht lupenrein?«

»Das Gericht hat festgestellt, dass das, was sie getan haben keine Notwehr war. Wenn es Notwehr gewesen wäre, gäbe es keine Straftat. So haben Sie aber eine Straftat begangen, die aber entschuldbar gewesen war, da Sie verletzt waren und nicht flüchten könnten. Deswegen müssen Sie auch keine Entschädigung den Eltern Ihres Peinigers zahlen.«

»Danke vielmals, Herr Anwalt.«

»Sehr gerne Perla, jederzeit wieder. Passen Sie weiterhin gut auf sich auf.«

 

Version 3