Von Kornelia Wulf

Kühler Marmor streift meine Wade. Ich sitze auf dem Wannenrand, fische einen Eiswürfel aus dem Badewasser. Er gleitet über meine Halsvenen, Schultern, zieht seine feuchte Spur über den Bauch, ruht dann aus zwischen meinen Schenkeln. Ein kurzes Erschauern fährt über die Haut. Bis die Wärme zurückkriecht und das Blut wie einen Strom durch meine Adern fließen lässt. Ich greife nach dem Cocktailglas auf dem Waschtisch, schüttle den Dreier, höre das Klackern der Eissplitter. Und ich proste mir zu, während mein Unterarm den Schwaden von dem Schminkspiegel wischt. „Perfekt“, flüstere ich, „alles nach Plan. Was für ein Tag! Ein verdammt guter Tag“, …

 

… der heute Morgen schon perfekt begann.

 

Auf die Minute genau hatte der ICE an Gleis 1 gestoppt und Lucien und ich betraten das reservierte Abteil. Kahle Waldbäume, die an diesem Novembermorgen wie Scherenschnitte aus dem nebligen Dunst heraus stachen, huschten an uns vorbei. Ich vergrub meinen Kopf in dem Nackenkissen, träumte mich in eine riesige Wiege beschattet von Palmenblättern. Schaukelte, summte, bis mich ein schrilles Kläffen weckte. Ich schreckte hoch, als wir den Umsteigebahnhof erreichten. Sah vier pummelige Kleinkindfinger, die auf dem Zugfenster herum krabbelten, drückten, um Lucien durch die Scheibe zu kraulen. Und als ob er beweisen wollte, dass er über eine nur geringe Portion Grips verfügt, reckte mein Terrier die Zunge aus dem Rachen. Er  verschmierte die Scheibe bei dem Versuch, das streichelnde Händchen zu erreichen. „Aus, Lucien! Böser Hund!“, rief ich, während ich die Leine in sein Halsband klickte, ihn über den Bahnsteig auf das Nachbargleis zerrte, an dem unser Anschlusszug schon wartete.

 

Ich kramte mein neues Buch aus der Reisetasche. Die ewigen Toten von Simon Beckett. Und während das Blut in meinen Lustzonen rauschte, knetete ich Luciens Kippohren, bis er wie ein Sänger über mindestens eine Oktave seufzte. „Heute müssen wir noch diese lästige Sache erledigen. Aber morgen beginnen wir mit dem neuen Kapitel.“

 

Nach dem dritten Zwischenhalt konnte ich den Anlass meiner Reise nicht länger ignorieren und stopfte das Buch wieder zurück zwischen Socken und Pulli.

 

Vor einem viertel Jahr hatte das Schreiben in meinem Postkasten gelegen. Eine Einladung zum Klassentreffen. Abiturjahrgang 1989. Mein Kreuz landete in dem „Ja“ Kästchen, obwohl ich diese Schule bereits nach der neunten Klasse verlassen hatte. Nach diesem Ereignis, das einen kantigen Stein in mein Leben schmetterte, der sich anscheinend dort heimisch fühlt und einem Entfernen bislang hartnäckig widersetzt. Mein Vater nahm damals die Zügel in die Hand. Er ließ sich beruflich versetzen. Und so kehrten wir der Stadt meiner Geburt den Rücken. Vor mehr als dreißig Jahren.

 

Dreißig Jahre…

 

und doch glaubte ich jeden Baum und Strauch wieder zu erkennen, als sich die Silotürme der alten Zuckerfabrik am Waldrand vor mir auftürmten. „Was für ein Schwachsinn“, grummelte ich. Doch plötzlich hörte ich ein Krachen. Spürte den spitzen Splitter, der von der Steinkante abplatzte, sich zwischen meinen Schulterblättern verkeilte. Und ein kaltes Lineal aus Metall, das sich Zentimeter für Zentimeter aufwärts schob vom Steißbein bis zum Nacken. 

 

Ich taumele durch den Wald, die Arme weit ausgestreckt. Das dichte Schwarz drückt auf meine Augen, verwebt sich mit einem Anthrazit. Nach dem nächsten Schritt sticht ein milchiger Schein durch das Wolltuch, das an der Schläfe juckt. Und während ich mich kratze, stolpert mein nackter Fuß über knorrige Holzwülste, die meinen Zeh mit fasrigen Schlingen einfangen. Er knackt, als ich das Knie mit Ruck zum Bauch hinaufziehe. Und der glühende Pfeil trifft, schießt Feuer durch Ballen und Sohle.

 

Als der Zug an der Fabrik vorbeirauschte und mein Blick nach den alten Hütten suchte, in denen wir früher heimlich zwischen Säcken und Melassekanistern gespielt hatten, glaubte ich längst vergessene Kinderklänge zu hören. Sie rieselten durch den Äther. Knisterten. Wie das heisere Gepfeife eines Radios mit Frequenzstörungen. 

 

Eins, zwei, drei 

das Rübenmonster stampft vorbei …

 

Ein Moment der Wehmut fing mich ein, als ich entdeckte, dass unser Spielparadies einer Hochhaussiedlung hatte weichen müssen. Mit aufdringlichem Anstrich,

 

… zerquetscht dem Klaus das Ei

 

der mich an mit Farbstoff aufgehübschte Dotter erinnerte. Nur noch ein letztes Barackenexemplar ragte aus dem von Unrat und Kanülen übersäten Stück Wiese. „Ein Nirwana für Junkies“, dachte ich, „auf ihrer letzten Reise“, und begann ein Kinderlied zu summen. 

 

Bis ein flammender Schmerz die Idylle erstach.

 

Die klamme Decke kratzt auf meinem Rücken und in den modrigen Gestank, der meine Nase quält, drängt sich sein beißender Fuselatem. Ich stöhne auf, als Uwes Stiefel meinen Zeh streift. Höre sein Rülpsen, das aus den tiefsten Gewölben seiner  Eingeweide aufsteigt, während er schnarrt „Stell dich nicht so an, du Prinzessin auf der Erbse. Das ist erst der Anfang.“

 

*

 

Der Aufzug glitt surrend in das Erdgeschoss des Viersternehotels. Ich prüfte den Sitz meines roten Etuikleides im Spiegel. Puderte noch einmal die Nase. „Was für ein Luxus in dieser kleinen Stadt“, dachte ich. Und was für ein geschultes Personal! Selbst die junge Dame an der Rezeption, die mit schläfrigem Schafsblick ihre Gäste anblinzelte, hatte sich für Lucien ins Zeug gelegt und ihm einen Hundesitter mit Übernachtbetreuung organisiert.

Ein Raunen sirrte durch die Luft, als ich den Saal betrat, in dem ein paar Mitschüler schon warteten. Und während sich ihre Blicke in meinen Körper ein zu dübeln schienen, erwachte die kleine Flamme in mir. Breitete sich aus zwischen Schambein und Bauchnabel, als züngele sie an einer Lunte entlang. Und ich spürte wieder dieses feine Brennen, das wie ein glühendes Pendel mein Innen und Außen ausbalanciert. 

 

„Nur einen Schluck“, flüsterte ich auf dem Weg zur Bar, „nur einen winzigen Martini.“ 

 

Mit dem Glas in der Hand an den Tresen gelehnt – aus sicherer Entfernung sozusagen – ließ ich meinen Blick über das Feinschmeckerbuffet schweifen. Hinter einem Berg aus  Lachspralinen entdeckte ich Beate, die neben Ute stand. Die schöne Beate. Der Star der 9B. Jedes Mädchen hätte sich den kleinen Finger ausgerissen, um auch nur den Hauch ihrer Aufmerksamkeit zu erlangen. Dann schallte Utes Lachen durch den Raum, übertönte die murmelnden Gespräche. Das bis in die Tiefen meines Gehörgangs quietschte wie eine singende Säge.

 

Utes Säge kreischt schon wieder. Prustet einen Schwall Schulmilch über meine Jeans. Und während ich nach ihrem mageren Hals schnappe, um ihn einmal kräftig umzudrehen, flüstert Beate. „Du willst also dem Club der Eisenhüte beitreten.“ „Ey“, gröhlt Ute, „Eisenhüte. Was für ein bescheuerter Name. Der ist doch echt sch…“, Beate rammt ihren Ellbogen in Utes Rippen. „Halt endlich deine Klappe.“ 

„Okay, Gerit“, ihre spitze Nase schrammt meine Wange, „aber zuvor musst du die Prüfung bestehen. Dem Weg des finstren Lichts folgen. Wir holen dich heute um 17.00 Uhr ab. An dem alten Tor hinter der Zuckerfabrik. Und vergiss nicht, uns Schuhe und Strümpfe zu übergeben.“

 

Ute winkte ekstatisch, als unser Blick sich traf. Und auch die schöne Beate quälte sich ein Lächeln ab. „Unfassbar“, dachte ich, „wahrscheinlich ein Fall von Amnesie.“ 

 

Noch absorbiert von den alten Geschichten überfiel mich ein heftiges Zittern, als plötzlich Uwe die Bar betrat. Mit diesem jungenhaften Lächeln, das mein vierzehnjähriges Herz gekapert hatte. In das der Zahn der Zeit nun feine Furchen nagte. Als unsere Gläser sich berührten, schien ein Zeitfenster zu zerklirren. Und ich glaubte mich in seinen Falten zu verlieren.

 

Wie aus weiter Ferne nahm ich sein Gemurmel wahr. Hörte etwas von einer Tochter, die nun auch die 9B besucht. Und schickte ein Stoßgebet in das Hörrohr des Himmels. Flehte, dass dieser Kelch an mir vorüber gehen möge,

 

als dieser Schatten Uwes Leib verzerrte,

 

… ich kratze die Haut in Streifen … er hat es doch versprochen, dass ich das Tuch abnehmen darf …

 

aus dem Zacken wuchsen. 

 

… es drückt.stemmt.reißt mich entzwei …  ein schwarzer Sternenschwarm wirbelt vor paralysierten Augen …  und das Reptil kriecht.spreizt seine Klingenschuppen … der wunde Leib wimmert.gellt …  und es schiebt.faucht.stößt.zerfetzt … pflanzt seine Flamme ein

 

Sekunden ticken wie Stunden. Ich spüre zwei Hände auf der klammen Decke. Versuche, den Zeh zu kreisen, der steif und versteinert aus dem Ballen ragt. Dazwischen bleibt alles stumm. Ein Lächeln streichelt meine Züge. Der Rumpf wird wohl durch den Wald spazieren. Blumen pflücken.

 

Plötzlich streicht ein hechelnder Atem über meinen Knöchel. Etwas Schleimiges. Warmes. Trifft.

 

„Wow“, Uwe lacht heiser, „selbst mein alter Köter steht auf dich.“ Dann. Ein knödelndes   Jaulen. „Aus, Warlock! Böser Hund!“ 

 

*

 

„Wie kann man nur so hässlich aussehen?“ 

 

Ich rümpfe die Nase, beuge mich über den Wannenrand. Starre auf Uwes Bauch, der sich fahlweiss unter dem Wasserspiegel wellt. Schon leicht gedunsen wie ein verdorbener Karpfen. Ich rolle das Fläschchen mit den K.o.-Tropfen in der Hand. Beschafft im Netz mit nur einem Klick. Von einem Strohmann. Das ich ganz bald am Bahnhof entsorgen werde, wo ich Lucien endlich wieder sehe

 

Meine Glückshormone tanzten, als der Zimmerservice diskret anklopfte und mir das Tablett mit den Dreiern in die Hand drückte. Und während salzige Säure in die Süße des Drinks tropfte, fischte ich ein paar Würfel aus dem Eiskübel.   

 

Uwes lästiges Keuchen währte nur einen Zeitfitzel lang. Seine Glieder ruhten schon still und starr, als ich meine Hand auf seinen Schädel presste. Ganz sanft drückte … 

 

Der Pietät gehorchend hätte ich die Lider senken sollen.

 

Doch diesen gläsernen Blick, dieses jämmerliche Brechen, will ich niemals vergessen.

 

Und als Zeichen des Himmels schwebt ein Hauch durch den Raum. Löscht die Flamme aus.

 

Ich richte mein Make-Up in dem nun glasklaren Spiegel.

Schaue ein letztes Mal zurück …

Kippe die Eiswürfel in das noch dampfende Wasser …

 

Niemand darf unnötig leiden.

 

 

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