Von Ulli Lenz

Nach Atem ringend hole ich Luft. Ein Traum hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ein Traum von dir. Wie so oft, in den letzten Wochen.

Verloren zwischen den zerwühlten Decken und Kissen sitze ich da, vornübergebeugt, um bei meinen angewinkelten Knien nach Halt zu suchen. Mein Herz rast. Fetzen des Traumes hängen noch vor meinen Augen und lassen die Grenzen zur Realität verschwimmen.
Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.

Langsam kehrt meine Fassung zurück, und damit die Erinnerung. Kein Alptraum könnte schlimmer sein als die Realität.
Ich nehme die Umgebung um mich herum wieder wahr. Meine Augen bleiben am Lichtstreifen haften, den der Mond ins Zimmer gemalt hat. Selbst er hat erkannt, worum es in unserer Geschichte geht:
Unsere Geschichte handelt von Farben. Von den Farben schwarz, weiß und rot. Und ich weiß, dass es an der Zeit ist, sie fertig zu erzählen.

 

Ich werde diesen Augenblick nie vergessen, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Auf diesem Ball. Wie unsicher ich mich bis zu diesem Moment gefühlt habe!
Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nicht gewusst, wer ich bin, oder wer ich sein möchte. Meine schwarzen, widerspenstigen Locken im Nacken streng zusammengebunden, habe ich den schwarzen Anzug meines Bruders getragen, der an den Ärmeln und Beinen viel zu lang war. Den ganzen Abend über habe ich spöttische oder verächtliche Blicke geerntet.

Du warst anders.

Ich habe dich plötzlich am gegenüberliegenden Rand der Tanzfläche stehen gesehen, in einem langen, schneeweißen Kleid. Deine Augen haben meine gefangengenommen, und du hast gelächelt. Bereits da war ich verloren. Ich habe in Flammen gestanden, lichterloh.

Unser Kennenlernen ist ein vorsichtiges Herantasten, ein heimliches Finden gewesen. Wie jung, wie unschuldig wir doch waren!
Es hat Wochen gedauert, bis ich es erstmals gewagt habe, dich zu berühren. Deine weißblonden, seidigen Haare oder deine zarten Hände, hell wie Porzellan. Zu abwegig ist der Gedanke gewesen, dass du mehr als nur Freundschaft suchen könntest.

Erst später, als du unter einem fadenscheinigen Vorwand vor meiner Wohnungstür aufgetaucht bist, dämmerte mir, dass du meine Gefühle erwidern könntest. Deine himbeerroten Lippen dann endlich auf meinen zu spüren, hat mein verliebtes Herz regelrecht explodieren lassen. Wie ein Vulkan hat es sich geöffnet und von da an heiße Gefühle aus sich herausgestoßen. Mir ist bis dahin nicht klar gewesen, zu welcher Leidenschaft ich fähig bin. Und dass du mir mit solchem Verlangen geantwortet hast, hat mir schier den Verstand geraubt.

Du hast von Anfang an klargestellt, dass deine Familie nicht von uns erfahren durfte. Da deine Eltern wichtige Leute sind, habe ich verstehen können, dass ich in ihren Augen nicht die richtige Wahl für ihre Tochter bin. Aber das hat mich nicht gestört. Uns hat es eben nur im Verborgenen gegeben. In unserer eigenen kleinen Welt.

Wir haben bald ein Liebesnest für uns beide gemietet. Du hast im Handumdrehen aus der unpersönlichen Wohnung einen gemütlichen Rückzugsort geschaffen. Es ist dir wichtig gewesen, dass wir uns in einer angenehmen Umgebung getroffen haben, auch wenn wir uns in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam gezeigt haben.
Müsste ich unser gemeinsames Heim beschreiben, würde ich sagen, dass es ganz dir entsprochen hat: strahlend weiß und rein. Die einzige Ausnahme darin war ich.

Natürlich, es ist nicht immer einfach gewesen unseren Alltag zu planen, aber es ist uns stets gelungen, genügend Zeit für uns zu finden. Und du hast dir immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um mich zu überraschen oder zum Lachen zu bringen. Das fehlt mir am Meisten.

Wie an unserem ersten Jahrestag, als du ein herzförmiges Satinkissen mitgebracht hast. Du hast gesagt, dein Herz gehöre nun für immer mir. Ich habe geweint vor Glück.
Von da an gab es zwei hervorstechende Farbkleckse in unserem weißen Versteck: das Rot des Herzpolsters, und das Schwarz meiner Kleidung.
Jeden Morgen, wenn ich neben dir aufgewacht bin, habe ich von da an mit deinen hellblonden Strähnen gespielt, die sich mit meinen kohlrabenschwarzen Haaren auf dem dunkelroten Stoff zu immer neuen Mustern verwoben haben.
Kostbare Momente, die ich schrecklich vermisse.

Ich bin schon immer anders gewesen, ohne das zu wollen. Schon als Kind.
Anders als meine Familie. Anders als meine Schulkameraden.
Erfolglos habe ich versucht, mich mit unauffälligem Verhalten und schwarzen Klamotten zu tarnen. Mein wahres Ich ist trotzdem immer irgendwie durchgesickert, und hat die Menschen in meiner Umgebung von mir Abstand nehmen lassen.
Hätte ich mich kurz selbst beschreiben müssen, so hätte ich das in einem Satz tun können: „Ich bin das schwarze Schaf.“
Bei dir habe ich endlich einen Platz gefunden, bei dir war ich plötzlich „richtig“.

Unsere Geschichte ist kurz, viel zu kurz. Und das Schlimmste ist: Ich habe es nicht kommen sehen. Bis zum Schluss hast du mir Liebesschwüre zugeflüstert. Und ich habe fühlen können, dass deine Liebe zu mir echt ist.

Die Sonne war bereits am Untergehen, als du mir eröffnet hast, dass wir uns nicht mehr sehen können, unser gemeinsames Leben vorbei ist. Mein Herz stand still, und ich stürzte in ein Loch, das keinen Boden zu haben schien. Fassungslos beobachtete ich deine Tränen, die dir über die Wange rollten, um dann auf deinem alabasterweißen Rollkragenpullover dunkle Kreise zu zeichnen. Als du schließlich ohne weitere Erklärungen aus der Wohnung geflohen bist, habe ich dich vom Fenster aus beobachtet, wie du versucht hast, ganz aus meinem Leben zu laufen. Der Himmel über dir hat gebrannt.

Ich kann nicht sagen, warum ich wenige Monate später genau an diesen See gefahren bin, um spazieren zu gehen. Vielleicht, weil unsere Geschichte schon längst geschrieben war.

Der Himmel ist voller Wolken gehangen, und die spiegelglatte Oberfläche des Sees hat ihn milchig weiß reflektiert.
Weiter vorne habe ich ein Brautpaar erkennen können, dass auf der Terrasse des Seerestaurants mit seinen Gästen eingetroffen ist. Ich wollte mich abwenden, um das Glück dieser Leute nicht ertragen zu müssen, als die Braut sich umgedreht und in meine Richtung geblickt hat. Über dem See hinweg haben sich unsere Augen gefunden, und wir beide sind erstarrt. Du hast nur den Zeigefinger gehoben, und mir war klar, dass ich auf dich warten sollte.

Mit deinem Ehemann und all den fröhlichen Leuten bist du im Inneren des Hauses verschwunden. Erst viel später habe ich mich in Bewegung gesetzt, und bin wie in Trance auf einen kleinen, versteckten Steg unterhalb des Restaurants gegangen, den wir schon einmal gemeinsam besucht haben. Dort habe ich mich ans Ende gesetzt, auf die helle Wasseroberfläche gestarrt und zugesehen, wie meine dunklen Haare mein Gesicht umflatterten, und mit meinem schwarzen Seidenschal zu tanzen schienen. Langsam ist mein Spiegelbild düster geworden, bis der See schon fast wie flüssiger Teer geglänzt hat.
„Ich möchte es dir erklären“, hast du plötzlich hinter mir gesagt.

Wir haben im kleinen Bootshaus Schutz gesucht, wie damals, wenn auch mit anderen Absichten. Als wir schließlich im Ruderboot nebeneinander Platz genommen haben, hast du nach Worten gesucht und mit den Nägeln abblätternde Farbe des Bootes abgekratzt. Blassrote Lackspäne landeten zwischen deinen eleganten Brautschuhen und meinen schwarzen Turnschuhen.

„Ich habe ihn vor einem Jahr kennengelernt. Er ist ein wunderbarer Mensch, und mir wird es gut mit ihm gehen“, waren deine zögerlichen Worte. Dann sind die Sätze nur mehr so aus dir hervorgesprudelt. Unfähig zu denken, habe ich nur einzelne Fetzen in mir aufgenommen.
gutgehen… anständig… Versteckspielen… Eltern… normales Leben… Kinder…

Ich weiß noch, dass der Vulkan in mir zu brodeln begonnen hat, und dann ist das Feuer aus mir hervorgebrochen.
„Wie kannst du ihn heiraten, du liebst doch mich!“, habe ich dich angebrüllt, und mir den Schal vom Hals gezerrt, weil die Hitzewelle aus der Brust nach oben gerollt ist und mein Kopf zu zerbersten gedroht hat. Du hast mich aus erschrockenen, fast ängstlichen Augen angesehen, weil du diese Heftigkeit von mir nicht gewöhnt bist.
„Ich kann auch ihn lieben, anders eben“, hast du leise geantwortet, bevor du in Tränen ausgebrochen bist.
„Aber er ist ein Mann!“, brach es aus mir hart und abfällig heraus. Ich konnte nicht glauben, dass du unsere erfüllte und echte Liebe, wenn auch im Geheimen, zugunsten eines Scheinlebens aufgegeben hast.

Was danach passiert ist, kann ich nicht mehr genau erklären. Du wolltest dich verabschieden. Und du hast mich geküsst. Heftig, flehentlich, und vor allem voller Leidenschaft. Mein Herz fühlte sich wie eine Waschtrommel an, in der viel zu viele Emotionen auf einmal im Schleudergang wirbelten. Jedenfalls konnte mein Verstand sie nicht mehr auseinanderhalten.
Vielleicht habe ich dich einfach nicht gehen lassen wollen.
Vielleicht habe ich dich nicht leiden sehen können.
Vielleicht habe ich nicht so sinnlos leiden wollen.

 

Dann hast du neben mir gelegen, in deinem wunderschönen Brautkleid. Mein schwarzer Seidenschal um deinen Hals wirkte wie ein Fremdkörper. Das kleine Rinnsal Blut, dass aus deiner Nase gekrochen ist, hat das Bild dann vervollständigt. Schwarz, weiß, rot.

Zum Abschied habe ich deine himbeerroten Lippen geküsst, und unsere Haare haben dabei zum letzten Mal zu einem schwarz-weißen Muster verschmelzen dürfen.

 

Meine Augen kehren zu diesem schmalen, beleuchteten Streifen des Mondlichtes im Bett zurück. Wie ein Band schlängelt es sich vom Fenster in den Raum, um die wichtigsten Details in Szene zu setzen: Schwarz, weiß rot.
Das Schwarz des Hotelbetts hebt sich kaum von der Dunkelheit ab, die in den Zimmerecken lauert, aber das strahlende Weiß der Bettwäsche lässt nicht zu, dass es davon verschlungen wird. Und mittendrin in diesem schwarzweißen Band leuchtet ein Stück des Herzkissen – meine Hälfte – in seinem kräftigen Rot. Bald wird der Lichtstreif vorübergezogen sein, und auch meine Seite des Kissens wird im Dunkel verschwinden, um das letzte Bild unserer Geschichte zu zeigen.

Ich bette mich sorgfältig in Seitenlage auf das fahle Laken, das Gesicht dem Herzpolster zugewendet, und breite die Haare  davor auf. Dann greife ich zur Rasierklinge. Das letzte, was meine Augen sehen, sind die roten Tropfen meines Blutes, die neben meinen schwarzen Haarsträhnen auf das weiße Laken treffen.

 

Version 2