Von Agnes Decker

Was der See nimmt, gibt er nie wieder her. Ungutes schlummert tief auf seinem Grund. Blutjunge Mädchen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sich und ihr Ungeborenes in den Fluten zu ertränken. Ehebrecherinnen und ausgediente Geliebte in der Gestalt verführerischer Meerweiber, die bei Vollmond lüsterne Mannsbilder in die Tiefe ziehen. 

Viele Geschichten der Großmutter rankten sich um den See. Eng aneinander gepresst saßen die Kinder zu ihren Füssen und lauschten atemlos. Danach schlief er unruhig, von Albträumen gequält, aus denen er schreiend aufwachte.

Der Mann sitzt unbeweglich auf dem Stuhl und starrt auf die Tageszeitung, die vor ihm auf dem Tisch liegt. „Du hast gelogen, Großmutter, flüstert er, nicht alle blieben dort. Sie nicht. Sie ist wieder aufgetaucht aus der unergründlichen Tiefe.“

 Der Mann atmet schwer. Was wohl von ihr übrig ist? Kinder haben sie gefunden, ausgerechnet Kinder. Mit Stöcken versuchten sie, das Kleiderbündel aus dem See zu fischen. Der Gestank soll unerträglich gewesen sein. Gottseidank hat die Lehrerin sofort begriffen, was dort im Wasser schwamm und rief die Polizei. 

Der Mann wartet. Wartet darauf, dass sie ihn abholen. Aber sie kommen nicht.

 

Mit einem Seufzer lässt sich Polizeihauptkommissar Martin Meinhardt am Schreibtisch nieder, greift in die Schublade und nimmt einen Becher heraus. Magerjoghurt, 0,1 Prozent steht darauf und ein Bild saftiger Früchte gaukelt gesunde Ernährung vor. Er öffnet ihn und stößt, mit der Todesverachtung des Genussmenschen, den Löffel hinein. Das Zeug hat mit Sicherheit noch keine einzige Erdbeere gesehen, denkt Meinhardt und wirft den Becher angeekelt in den Papierkorb. Unwürdig, ja unwürdig ist das einzig richtige Wort für diesen Fraß. Bin ich ein Magermodell? Meinhardt streicht liebevoll über die Rundung seines Bauches. Gerade, als er die Speisekarte der Kantine aus der Schublade angelt, wird die Tür zu seinem Büro aufgerissen. Eine junge Polizistin stürmt herein. „Das musst du lesen, Chef“, ruft sie und wirft ihm die Tageszeitung hin. „Verdammt“, brüllt Meinhardt, „woher haben die das, die verdammten Leichenfledderer?“

 

Der Mann wartet noch immer. Er hat Kaffee gekocht, sitzt am Küchentisch und wärmt die Hände an der Tasse. Sie haben sie gefunden. Ihre Reste. So tot. Dabei hatte er noch mit ihr geschlafen. Am hellen Tag. Hier, auf dem Sofa. Sie war so hingebungsvoll gewesen. Wie lange nicht mehr. Er hatte sie in den Armen gehalten, ihr Gesicht an seines geschmiegt. Du Armer, flüsterte sie ihm ins Ohr. Wieso arm, hatte er zurückgeflüstert, ich bin doch so reich, der reichste Mann der Welt. Da lachte sie hell auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Einen Schmetterlingskuss. So leicht. 

Der Schweiß bricht ihm aus und überzieht seinen Körper mit einem scharfen Geruch. Er hatte es nicht mehr ertragen, ihren Spott, ihre Leichtigkeit, die sie ihm entgegen schleuderte. Maria, denkt er, meine Schöne. Wie ein Engel sah sie aus, so weiß und eiskalt hatte sie sich angefühlt. So war sie immer gewesen. Ein Engel aus Eis. Und dann lag sie da. So still. Das war es also. Ein ganzes Leben mit all seiner Fröhlichkeit und Schönheit, seiner Liebe und seinen Träumen. Maria, meine Liebe, mein Alles. Hast du mir deswegen, „Mein Armer“ ins Ohr geflüstert, weil du wusstest, was geschehen würde.

 

Martin Meinhardt versucht krampfhaft, die Stimme der Rechtsmedizinerin auszublenden. Sie beschreibt gerade detailliert die Beschaffenheit der aufgefundenen Wasserleiche. Das muss er sich wirklich nicht antun. Er reißt die Augen auf und richtet sie auf einen Punkt an der Wand. Das gibt seinem Gesicht einen interessierten Ausdruck. So sieht es jedenfalls aus, wenn er es zu Hause vor dem Spiegel übt, was er regelmäßig tut.

Gegenüber sitzt Jona, die eigentlich Johanna heißt. Sie hat die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt, was sehr verführerisch wirkt. Findet Meinhardt. Blitzgescheit ist sie, eine großartige Analytikerin. Er ertappt sich wieder einmal bei der Vorstellung, wie sie sich wohl anfühlt. Weiteres verbietet er sich regelmäßig. Er doch nicht. Mit einer jungen Kollegin. Nie im Leben. Außerdem passt Jona, schmal und eckig und mit ihrem Kurzhaarschnitt eher an einen Buben erinnernd, überhaupt nicht in sein Beuteschema.

Die Rechtsmedizinerin hat ihren Vortrag beendet und räuspert sich vernehmlich. „Herr Meinhardt, würden Sie bitte jetzt…“

Meinhardt taucht aus seinen Gedanken auf und blickt in die Runde. Zehn Augenpaare schauen ihn erwartungsvoll an. „Möchte wissen, wer die verdammte Presse…“, beginnt er. Eine Fahrradklingel unterbricht seine Rede. Verärgert schaut er sich um. Keine Handys. Das ist eine unumstößliche Regel und eigentlich halten sich alle daran. Er sieht, wie Jona in die Tasche fasst und mit einem „Ist dienstlich und wichtig, sorry“, den Raum verlässt.

„Nun gut“, sagt Meinhardt irritiert „machen wir weiter. Wer kann…“ 

 „Wir haben etwas“, unterbricht ihn Jona, die, mit ihrem Handy wedelnd, gerade wieder den Raum betritt, „eine vermisste Frau.“

„Dann, ja bitte“, Meinhardt  und winkt sie mit der Hand zu sich.

 

„Also“, Jona baut sich neben ihm auf. Von Verlegenheit keine Spur. So als wäre sie die Chefin. „Also“, wiederholt sie, „ich bin die Fälle des letzten Jahres durchgegangen. Cold cases sozusagen. Und dabei auf die Frau gestoßen. Maria Weinhold, Ehefrau von Prof. Dr. Dr. Weinhold, emeritiert und seiner Zeit eine Kapazität auf dem Gebiet der Genforschung an der hiesigen Uni. 20 Jahre älter als sie.“ Jona holt tief Luft. Ihre Augen blitzen und ihre Zunge fährt über die Lippen.

„Ich erinnere mich“, unterbricht Meinhardt sie. „Es gab eine Medienpräsenz, die die Ermittlungsarbeiten ungemein erschwerte. Von Liebhabern war die Rede, von Eifersucht. Der Professor war höchst verdächtig und verwickelte sich bei der Befragung in Widersprüche. Aber ohne Leiche konnten wir ihm nichts beweisen.“

„Genau.“ Jona nickt. „das Haus wurde auf den Kopf gestellt, das Grundstück mit Schaufeln und Baggern durchwühlt, die Umgebung des Sees und der Wald wurden mit Suchhunden, Hubschraubern und Drohnen abgesucht. Nichts, man fand nichts. Es gab viele Hinweise aus der Bevölkerung. Allen wurde nachgegangen. Ohne Erfolg.“ Jona hält inne und schaut ihre Kollegen an. „Vielleicht ist sie ja jetzt aufgetaucht.“

„Sehr schön, prima, Jona“, sagt Meinhardt. „Dann statten wir beide dem Professor jetzt einen Besuch ab. Die anderen befragen die Lehrerin und die Kinder, aber bitte nur in Anwesenheit der Eltern. Will deswegen nicht noch zusätzlichen Stress, verstanden? Und keine Informationen an die Presse.“ Ein allgemeines Nicken. Dann breitet sich eine geschäftige Unruhe aus.

 

Der Mann hat die Ellenbogen auf den Küchentisch gestützt und seinen Kopf hineingelegt. An Kanada denkt er, die Weite der Landschaft, die Einsamkeit. Seit Jahren hat er eine größere Summe dort deponiert. Die Reisetasche mit dem Nötigsten und dem gefälschten Reisepass steht bereit. Schon lange. Vorsichtshalber. Das hatte er nach der Sache mit Brigitte… lange, bevor er Maria…Er könnte einen Flug buchen, jetzt sofort. Aber immer, wenn er an Kanada denkt, sieht er nur die Landschaft, nicht sich selber in ihr. Soviel Schnee und Kälte. Er schaudert. Die, die ihn gut kennen, würden ihn in Brasilien vermuten. Der Mann kichert leise. In Kanada, niemals.

 

Es ist ein frostiger klarer Wintertag. Der Schnee knirscht unter den Schuhen. 

Meinhardt und Jona sind gleichzeitig mit dem Streifenwagen eingetroffen. Als sie an der Haustür klingeln, kommt gerade die Sonne heraus und lässt das Eis auf den Zweigen der 

Bäume glitzern und funkeln. Trotz der Helligkeit hat das Haus etwas Einsames, Abweisendes.

„Professor Weinhold?“ fragt Jona und zeigt ihren Ausweis. 

Der Mann, der ihnen die Tür öffnet, nickt und schaut sie fragend an. Sie kämen von

der Polizei und würden gerne mit ihm sprechen, am besten im Haus, sagt Meinhardt. Der Professor tritt zur Seite und lässt sie eintreten. Er ist klein und schmächtig. Sein graumeliertes Haar ist ungekämmt und er riecht nach Schweiß. 

„Geht es um meine Frau?“, stammelt Weinhold, „Ich habe es gelesen, in der Zeitung. Ist sie das, die aus dem See?“

„Können wir uns hinsetzen, Herr Professor?“ Jona hat seinen Arm genommen und führt ihn ins Wohnzimmer, wo er kreidebleich auf einen Sessel sinkt. 

Nachdem Meinhardt sich und Jona vorgestellt hat, beginnt er leise. “Herr Professor Weinhold, Sie haben recht. Es geht um die Leiche aus dem See. Das haben wir bei ihr gefunden.“ Er hält ihm ein Foto hin.

„Das, das ist die Halskette meiner Frau“, der Professor fängt an zu zittern. Zuerst zittert sein Mund, dann sein ganzes Gesicht und Stück für Stück der gesamte Körper. Dabei ist sein Kopf nach hinten gefallen. Es sieht unheimlich aus, ein bisschen grotesk, so wie bei einem Epileptiker. Die Polizisten starren ihn an. Tränen laufen ihm über das Gesicht und dann fängt er an zu lachen. Er prustet und kichert und will gar nicht mehr aufhören. Nachdem Meinhardt ihn mehrmals geschüttelt hat, schlägt er ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Sofort hört das Zittern und Kichern auf. Er war es, denkt Meinhardt, dieses Mal kriegen wir ihn.

„Herr Professor Weinhold, begleiten Sie uns bitte zum Präsidium“, sagt er mit leiser Stimme. „Kommen Sie.“ 

 

Der Mann schaut aus dem Fenster. Er sieht, wie gegenüber der Professor aus dem Haus geführt wird. Ein Polizist hat ihm die Hand in den Nacken gelegt, der andere schiebt ihn an der Schulter vorwärts. Gleich, gleich drücken sie seinen Kopf herunter, wenn er ins Auto steigt. So ist das also, denkt der Mann und nimmt sein Handy und seine Reisetasche. 

 

Meinhardt schaut Jona an, die das Haus verlässt und durch den winterlichen Vorgarten auf ihn zukommt. Ich könnte sie einladen, unseren Erfolg zu feiern, denkt er. Auf der Straße hinter ihm nähert sich ein Taxi und hält vor dem gegenüberliegenden Haus. Ein Mann mit einer Reisetasche in der Hand kommt heraus und steigt in das Taxi, das sofort losfährt. 

 „Der Professor war es nicht“, ruft Jona Meinhardt zu, und, als er sie stirnrunzelnd anschaut, „Bauchgefühl.“

 

 

Version 3