Von Karina Hentges

Kein Blut zu sehen, keine Kugel in meinem Brustkorb. Mein Tee ist nicht vergiftet, keine Pille in meinem Sektglas.

Wie sie mich umbringt, ist eine ganz andere Nummer.

 

Dieser Moment, kurz bevor ein Mensch stirbt, ist ein magischer. Kurz bevor ein Mensch sein Glitzern aus den Augen verliert, kurz bevor er realisieren kann, dass es gleich vorbei sein wird. Unmöglich in Worte zu fassen, unmöglich konkret zu benennen.

 

Es wird davon gesprochen, dass menschliche Seelen mit dem Körper verbunden sind und sich in diesem Moment von ihm lösen. Dass unsere Körper wie leere Hüllen von Seelen Leben eingehaucht bekommen.

Ich sage, das ist nicht so.

Ich bin keine Seele, die nun auf fröhlicher Wanderschaft zu ihrem nächsten Zuhause ist. Ich merke, wenn ich meine Heimat gefunden habe.

Es wird auch davon geredet, dass gute und schlechte Szenen an einem vorbeischießen. Der sterbende Mensch die Chance bekommt, sein Leben von außen zu sehen, reflektieren zu können. In einem kleinen Moment langsam zu entschwinden.

Ich sage, das ist nicht so.

Woher soll der Geist sich die Zeit nehmen, im Verblassen der Gedanken das ganze Leben zu erörtern? Im Widerstand gegen den Tod muss der Körper mit aller Kraft versuchen, eben nicht zu sterben. Kämpfen verlangt, mit jeder Faser den Kampf gewinnen zu wollen. Nicht kraftlos sich dem Aufgeben hinzugeben.

Einfach so zu gehen. Nein.

Normalerweise realisiert ein Familienmitglied in dem Augenblick, dass es niemals wieder den Sterbenden umarmen, ein Freund bemerkt, dass er nie wieder mit dem Sterbenden reden kann. Ein Mörder wird sich normalerweise darüber klar, was er getan hat. Das Gewissen schlägt zu.

 

Ich habe diesen Moment nicht.

Kein Gewissen schlägt zu.

 

Ich erinnere mich an die Zeit davor. Die nichts mit meinem Sterben zu tun hat, die Zeit, in der wir glücklich waren. Gut, Glück ist zu viel gesagt, in der wir vielleicht fröhlicher waren als jetzt.

Ich rieche noch den Pfannkuchengeruch Sonntag morgens, wenn Dad motiviert ist und ich höre Mums Stimme, die „Walking on Sunshine“ singt, während sie meine Shirts zusammen legt. Sehe das Lachen des Mädchens vor mir, wie sie die Finger genau wie ich an die Mundwinkeln legt und eine Grimasse zieht. Wie sie alle meine Bewegungen nachmacht und wie ich einige Zeit brauche, um zu sehen, dass sie nur ein Spiegelbild ist.

Ein Bild, das sich über die Jahre hin verändert. Von geflochtenen Zöpfen zu glatten, offenen Haaren bis zur schwarzen Kurzhaarfrisur. Von leuchtenden Augen zum genervten Blick bis zum müden Augenreiben. Vom Kind zum Mädchen zur Frau. 

 

Heute um mich herum Stille. Kein Ton, kein Geräusch. Das Einzige, was ich höre, ist mein Atem. Wie mein Brustkorb sich hebt und senkt, unregelmäßig.

Dazu Licht. Hell, so dass die Sonne wie ein Scheinwerfer auf mich leuchtet, jedoch ohne Wärme. Ich friere, zittere. Von meinem Inneren aus bahnt sich die Kälte ihren Weg durch meinen Körper, schleicht an meinen Beinen über die blauen Flecke entlang zu meinen Füßen und durch meine Arme zu meinen Händen bis hin zu den Fingerkuppen. Zu den eingerissenen Nägeln.

Ich weiß nicht, ob ich stehe oder liege, ob ich mich bewege oder ob die Welt sich weiterdreht.  Ich weiß, dass ich alleine bin und das ist das Schwierigste. Niemals wird mich jemand wieder in den Arm nehmen oder mit mir reden können. Geschweige denn ein schlechtes Gewissen meinetwegen haben.

Meine Welt dreht sich nicht mehr.

Kurz nachdem ein Mensch verstorben ist, wird er ziemlich schnell ziemlich kalt. Starr blickt er ins Leere, die Augen schließen sich nicht von allein, und selbst, wenn sie von einer anderen Person zugedrückt werden, können sie wieder aufspringen.

Die Einsamkeit ist unerträglich. Ich spüre mich viel intensiver, wenn ich mit mir auskommen muss.

 

Wie alles angefangen hat? Ich verlor die Kontrolle über das Mädchen von damals. Über die Frau von heute. Was heißt Kontrolle. Ich war neugierig, genau wie sie. Wir waren ein Team und zusammen perfekt. Oft wurde auf Familienfeiern gesagt, wie lieb und toll wir doch seien und dass unsere Eltern sicher furchtbar stolz auf uns sein müssten. Ohne Zweifel, das waren sie auch.

Mir war von Anfang an klar, dass wir unsere Eltern brauchten, weil, nun ja, sie sind eben unsere Eltern. Brachten uns die Straßenverkehrsregeln, Manieren und das Aufräumen bei. Da passt es nicht, schreiend aus der Tür zu stürmen und uns uns selbst zu überlassen, nur weil ein Streit ausgebrochen ist.

Sie ist ein totaler Sturkopf. Schon immer. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist es Fakt. Und wird ausgeführt. War das Ziel, Gerechtigkeit im Streit um den besten Sitzplatz zu bekommen, wurde so lange gekämpft, bis es erreicht war. War das Ziel, die Liebe zu verstehen, wurde eben so intensiv nach dem richtigen Gegenstück gesucht, bis sie zufrieden war.

Und hatte sie sich in den Kopf gesetzt, erwachsen zu sein, hatte sie das kleine Kind in sich einfach getötet.

 

Und am Ende liege ich unter einem Berg, die verblassten Erinnerungen zusammengehalten durch einen Matsch aus Tränen.

Vergessen, wie es sich anfühlt, auch noch mit 16 Jahren in sein Bett zu fallen und Teddy so doll zu drücken, dass er eigentlich ersticken müsste. Oder sein Gesicht vollzuheulen, sodass er ganz nass wird. Oder beim Fahrradfahren die Sonnenstrahlen auf der Nasenspitze zu spüren und voller Freude die Arme vom Lenker zu reißen. Vergessen, die Wichtigkeit der Freundschaft nicht in Frage zu stellen, nicht mal, als die beste Freundin ihr Gegenstück fand. Sich das Ziel College vor Augen zu führen. Von ihr vergessen worden, bei dem Prozess, aus sich rauszuwachsen.

Das Ziel über sich hinauszuwachsen, aus sich rauszuwachsen, ist ein schlechtes, wenn du deine Größe überschätzt.

 

Über die Jahre hin veränderten wir uns, reiften, entfalteten uns, entdeckten uns neu. Probierten Sachen aus, ja, aber das, was sie im Alleingang macht, ist eine ganz andere Nummer.

Das erste Mal an Alkohol zu nippen, ist widerlich. Beim ersten Mal Gras rauchen, bleibt die Wirkung aus. Doch das erste Mal kristallklares Pulver ist der absolute Wahnsinn. Und dann die richtigen Freunde dabei, die ihr alles besorgen, die sie animieren, die ihr gut zu reden, sie vielleicht dann doch am Straßenrand zurücklassen, aber es am nächsten Tag nicht so gemeint haben, die ihr ein neues Zuhause zeigen, da unter der Brücke ist es nachts nicht so laut, und ihr Tipps zum Klauen geben, die sie in eine neue Welt entführen, fern ab von allen Regeln und Sorgen, dann und auch nur dann, kann die vergessene Stimme in ihrem Kopf nichts mehr ausrichten. Der Wunsch, endlich nach Hause zu gehen, wurde mit einem strengen Blick und einem nächsten Joint quittiert.

 

Mein Tod an mir geht auf sie zurück. Mit jedem Trip, mit jedem Kotzen, mit jedem unbedeutendem Vögeln tötet sie mich. Übertönt die Fragen in ihrem Kopf, die ich ihr stelle, jedes Mal, wenn sie das Bewusstsein verliert und sich ein klein wenig weniger an die Vergangenheit erinnert.

 

Zitat Ich lebe mein Leben, so wie es gelebt werden will Zitat Ende.

Nein. Du verlebst unser Leben, so wie du denkst, dass es in diesem Moment nötig ist, um so zu tun, als würdest du leben. Ich bin nur ein Teil von uns, doch ein Teil, der mehr will als das, was du uns gerade gibst. Halt.

Was du dir gerade gibst. Denn ich bin tot. Vergraben, untergraben, bis ich still bin. Du hast gewonnen, du Sturkopf, jetzt kannst du dich Stück für Stück selbst ruinieren. Ich werde als kleiner Funke in deinem Hinterkopf langsam verglühen, und doch will ich, dass du dieses Gefühl der Frage weiterhin als dunkle Wolke vor deiner hellen Sonne spürst.

Opfere das Mädchen in dir, um scheinbar erwachsen zu sein. Aber was würde das Kind von damals sagen, wenn es dich heute sehen würde?