Von Ralf Rodigues da Silva

Die übergroßen Leuchtschriftlettern des Hypermarché deuteten es an: Hier schien der Kunde noch König! 

 

Die Warenwelt wurde einem wahrlich majestätisch zu Füßen gelegt. Der anbetungswürdige Konsumtempel würde nichts unversucht lassen, sich an botschaftsreichen Versuchungen und ebenso vielen Glücksversprechen zu ergötzen; hinzu käme eine Garnitur weltumschlingender wie paradiesisch anmutender Liebesbezeugungen – gleichsam von „Götterhand“ beseelt, nur um uns das Leben zu versüßen. 

 

Und schließlich war da noch die überbordende einladende Drehtür zur Befriedigung lüstern-lasterhafter Begierden: Diese würde einen sekundenschnell in ungeahnte, ja geradezu metaphysische Sphären zu entführen trachten – Ja, wenn sie erst einmal passiert war…

 

Heute schienen wieder besonders viele Glücksritter unterwegs. Es war Wochenende. Und bereits der vollgestopfte Parkplatz machte, selbst schon zu so unchristlicher Zeit, keinen Hehl daraus, daß hier und heute ein familienähnlicher Wallfahrtsort anzutreffen sein würde. 

 

„Schwups…“, und flugs war das Drehkreuz in Begleitung zahlreicher anderer Zeitgenossen von mir durchschritten. 

 

Die Wagenkolonne war zügig erklommen. Auch der zeitlich befristete Besitz der bebügelten oder geräderten Transporthilfen war schnell mit dem jeweils mitgebrachten Einkaufskorb „für nach Hause“ markiert; und noch bevor der kontrollierende Blick ins Portemonnaie und auf den meist kleinkarierten „Beipackzettel“ der jeweiligen Eigentümer fiel, instruierten letztere noch eben gerade deren zweibeinige Anhängerschaft – vorzugsweise im Alter zwischen geschätzten 8 Monaten und 64 Jahren – für das, was kommt und das, was nicht sein darf.  

 

Dabei nötigten nicht nur die mehr oder weniger possierlichen Quälgeister im Kleinkindalter den Aufsichtspflichtigen auch eine gewisse Extra-Schärfe im Ton ab… Nur der ihr eigenen Toleranz war es zu verdanken, daß der autoritätsgeschwängerte Unterton trotzdem noch irgendwie was „Süßliches“ an sich hatte.

 

„Wahrscheinlich wieder nur ein als „Vielleicht-ja-doch“-getarnter-Vorbote, für die überraschend auftauchenden Süßigkeiten, die die lieben Kleinen spätestens an der Kasse noch als „Leckerli“ mit allem versöhnte, was ihnen vordem entsagt bleiben mußte“, so mein bittersüßer aber durchaus erfahrungsbasierter vorläufiger Befund.

 

Damit lag zugleich eine gewisse eingeforderte „Unmißverständlichkeit“ im Verhalten in der Luft, die bei Mißachtung das Einkaufserlebnis nicht nur auf meiner Seite durchaus schmälern konnte.

 

„Flori, bleibst Du hier! Hier jetzt! Nein, das haben wir anders besprochen…!“, brachte mich sogleich eine unzweifelhaft „pregnante“ und kurzatmig bemühte Mitvierzigerin aus den Gedanken, die dies so gegenüber ihrem quängelndem Sprößling auf der Seitenlinie entgegenbrachte. 

 

Und sie konnte trotz vorgewölbtem Bauch dabei gerade noch verhindern, daß der „Dreikäsehoch“, sich ihrer Kette bemächtigte, um sie zum Bersten zu bringen, nachdem sie ihm schonungslos dessen umkrallten Griff von einem Stofftier entzogen hatte.

 

„So, und jetzt bleibst Du an diesem Wagen hier, hast Du verstanden…! Ich mach mich doch nicht zum Affen hier. Und gewöhn Dich am besten gleich dran, mir zu folgen! Jedesmal das Gleiche mit Dir…“ 

 

Flori gehorchte. Erstmal. Immerhin. Aber merklich in Lauerstellung.

 

„Ein Einkaufsparadies steht wohl auch nur auf tönernen Füßen“, dämmerte es mir. Und meine ohnehin eingetrübte Einkaufsfreude verdüsterte sich in Sekundenschnelle. 

 

Außerdem graute mir bereits davor, die „Via Dolorosa“ entlang meiner dichtbepackten Einkaufsliste ausgerechnet am Wochenende durch alle Gassen und Regalmeter durchschreiten zu müssen. 

 

Denn eins war klar: Die vielen Kindersitze der Familienkutschen vor der Erlebniswelt, – sie waren ein untrügliches Zeichen dafür, daß der dazugehörige Nachwuchs auch heute wieder unermüdlich meinen steinigen Weg ins „Himmelreich“ der Markenwelt pflastern würde.

 

Der kurze fast reflexartige Check in die mal mandelförmigen, mal linsenähnlichen oder perlenrunden grünen, blauen oder grauen, braunen wie mischgetönten „Drohnenpaare“, die unter den sorgenfaltigen Stirnen der Mitkonsumenten aufschimmerten, machten es mir da nicht leichter: Ihre geschulten Augenpaare schienen schon vor mir alles abzuscannen und gezielt in noch so entfernter Reichweite anzusteuern, noch ehe ich mir den Weg dorthin bahnen konnte…(oder sollte ich besser freikämpfen sagen!?)

 

„Pasqualina, Pasqualina, hörst Du mich? Mami ist hier… Pas-qua-liiiii-naaaaaa………“ hallte es enervierend einen Gang weiter von mir fort. Und das „…liiiii-naaaaaa“, das kam einer menetekelhaften Erscheinung für mich gleich: Schmerzhaft, aufdringlich, unaufhörlich und das Unheilvolle war in den ausgedehnten fast beschwörenden Vokalen spürbar angelegt.

 

„Pas- qua-liiiii-naaaaaa………“, da, da war es wieder. Und wieder. 

 

„Herrgott, wo bist Du denn wieder?! „Pas- qua-liiiii-naaaaaa………?“

 

„Geht’s noch lauter…?“, so meine eher rhetorische Frage.

 

Und mit zusammengekniffenen Augen vernahm ich noch den Endspurt dieses eigentlich wohlklingenden Namens als Synonym für die erlittenen Leiden Christi, für die mir aufopferungsvoll angediehenen Mitleidenschaften und schließlich auch noch stellvertretend für die vollmundig aufschreiende Mutter: „Mein Gott mein Gott, warum hast Du mich verlassen…?!“

 

„Pasqu…, – ach Gott sei Dank, da bist Du ja, Lina…!“, verstummte es kurzfristig abrupt, „ich hab mir echt Sorgen gemacht, wieso antwortest Du denn nicht, wenn ich Dich rufe?! Wieso haust Du überhaupt ab? Da dreht man sich kurz um, und…, komm mal jetzt her hier! Man, geht‘s noch?!“, schüttelte sich die Mutter die Worte synchron mit dem verstört provozierend aufrüttelndem Kinderarm frei.

 

Von weitem war unterdessen zu sehen, daß sweet Pasqualina gewillt war, ihre Autoritätshörigkeit mit gefühlten 5 Jahren aufzugeben und die Geduld ihrer Mutter hartnäckig auf die Probe zu stellen.

 

Ich wurde unfreiwillig Zeuge, wie nach und nach Einzelteile von der einen Seite mit einem patzigen „Pa…“ rein und mütterlicherseits ebenso trotzig aus dem Einkaufswagen wieder zurück ins dazugehörige Regal wanderten.

 

„Nicht so! Nicht mit mir! Nein… , aber so geht das trotzdem nicht! Vielleicht kann ich nachher beim Rausgehen noch…Aber wenn, dann sowieso nur eins. EINS, hab ich gesagt, EINS! Lina! Und eins kann ich Dir jetzt schon sagen, wenn das nicht aufhört, ich nehm’ Dich nicht mehr mit! Das kannst Du Dir merken. Und das mein ich so. Hast Du das verstanden Fräuleinchen…?!“

 

Mir stand es nicht zu, mich in erziehungsmaßreglerische Einkaufsrituale anderer Leute einzumischen. Und ich wollte das auch nicht. Ich wollte das hier alles nicht.

 

“Verfluchter Wochenendeinkauf! Immer derselbe Krampf!“

 

Ich war in solchen Momenten einfach nur froh, kinderlos zu sein. Auch wenn mir die miterlebten „Florians“ und „Pasqualinas“, die „Svenjas“ und „Tillmanns“, die „Heidis“ und „Mercys“ und viele andere Einkaufshelden zu anderen Zeitpunkten in anderen Lebenswelten durchaus sympathische und wohlgesonnene Gegenreaktionen abringen konnten…

 

Ein paar überschaubare Intermezzi mit kinder- oder rentnerbehafteten Anhängselkonflikten weiter, machte sich dann doch noch eine leichte Panik in mir breit. 

 

Auf meinem Kreuzzug durch die vermeintlich beste aller Einkaufswelten stand mir nämlich noch die letzte Passage bevor…

 

Der „Vorhof zur Hölle“ war für jeden erkennbar markiert durch das impulskaufgetönte Regal mit Süßigkeiten in Griffhöhe. Es war ein Alleskönner! Alles kann – nichts muß! 

 

Und heute könnte es mal wieder soweit sein…

 

Und es machte unmittelbar Halt vor dem Laufband, das erst abkassierte, wenn alles, aber auch wirklich alles auf ihm Platz genommen hatte, was das letzte Herz begehrt…

 

Es war damit buchstäblich ein herausragendes Areal, auf dem noch mal einiges von den „Kleinkonsumenten“ abverlangt würde. Und es war dadurch auch ein Territorium, auf dem die Großen, denen sie anvertraut waren, noch einmal sprichwörtlich alles geben mußten, um Kollateralschäden zu verhindern oder sie doch wenigstens irgendwie zum Verstummen zu bringen.

 

„Bitte, lieber Gott, wenn Du ein Einsehen am Ende dieser „Einkaufs-Tortour“ mit mir hast, dann laß mich maximal mit dieser „Pasqualina“ oder besser noch mit diesem „Flori““ zwangs-zusammentreffen…!“

 

Nach meinem Verständnis hatten die sich wenigstens bereits im Vorfeld mit ihren Machthabern duelliert und würden sich jetzt vermutlich „geschmeidiger“ und schlußendlich versöhnlicher zeigen.

 

* Stattdessen *

 

Ich:

Mit meinen versammelten Objekten der Begierde im Einkaufswagen vor der Kassiererin in der zweiten Reihe parkend; nach gefühlt einer Stunde durchstandenen Chromgitter-Staukilometern eher im Begriff, alles stehen und liegen zu lassen und genervt meinem Fluchtreflex nachzugeben…

 

Vor mir:

Ein strampelndes, halbweinerliches Kleinkind, rücklings mit einem Playmobil-Polizeiauto auf dem Boden liegend; eher im Begriff, seinem Schreireflex nachzugeben und dem Hypermarché lautstark und unmißverständlich seine Allmachtsphantasien aufzunötigen…

 

Hinter ihm:

Ein von mehr als sieben Plagen gequälter Vaterschaftler; eher im Begriff, schamhaft zur Gegenwehr auszuholen, der es aber nicht schaffte, genau das konsequent über’s Herz zu bringen…

 

Um ihn herum:

Eine kunstvoll versammelte Kundenschar; eher im Begriff, Mitleid mit dem armen Kind, das „Christian“ hieß, sowie mit dessen ratlosen Vater anzumelden und sich mit guten Ratschlägen an der Meinungsvielfalt auch gegenüber der Kassiererin zu beteiligen…

 

Und in mir drin? 

 

Eine flüchtige, verstörend-verführerische Projektion; eine, wie es vermutlich nur ein Einkaufsparadies vorgefundener Provenience in mir wachzurufen vermochte: 

 

„Kann man‘s töten? Es quält sich?!“

 

Und es war irgendwie auch ein unfreiwillig erlösender Gedanke: Er war einfach so passiert…