Von Ursula Riedinger

Als ich am Freitag von meinem Geschäftstermin in Lindau nach Hause komme, erwartet mich Angie aufgelöst in der Wohnung.

Ich lasse mir von ihr alles erzählen. Gestern standen zwei Polizeibeamte vor ihrer Türe, Kommissar Inderbitzin und ein anderer Beamter, an dessen Name sie sich nicht mehr erinnerte. Sie fragten sie, ob sie etwas Rebecca wisse. Rebecca ist Angies Schwester. Angie erschrak. Und dann eröffneten sie ihr, dass Rebecca am Tag zuvor tot in der Limmat aufgefunden worden war. Der Kinderwagen wurde gefunden, von den Kindern keine Spur. Abends rief Anton bei der Polizei an und meldete seine Frau als vermisst. Die beiden Kinder, Lucas und Sara, wurden von einer unbekannten Frau nach Hause gebracht, welche die beiden alleine auf dem Spazierweg am Fluss entdeckt hatte. Die Adresse fand sie in Rebeccas Handtasche, die am Wagen hing. Anton war so verdattert, dass er vergass, die Frau nach ihrem Namen und einer Telefonnummer zu fragen.

Angie beginnt erneut zu schluchzen.

«Stell dir vor, Rebecca wurde ermordet.»

«Sieht aber ganz nach einem Unfall aus, was du da erzählst.»

«Es war aber kein Unfall, Robert, die Polizei hat Spuren gefunden.»

«Was für Spuren?»

«Das weiss ich jetzt auch nicht mehr genau, aber sie sagten, alles deute darauf hin, dass Rebecca ermordet wurde.»

«Rebecca, ermordet, wie schrecklich. Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll.»

Beide mochten wir Rebecca und Anton nicht besonders gut leiden. Wir hatten oft heftige Diskussionen über Familie und Kindererziehung. Aber dass Rebecca tot war, war für Angie verständlicherweise ein Riesenschock. Für mich ja auch.

«Kommt die Polizei nochmals vorbei bei uns?»

«Sicher, sie wollten auch mit dir sprechen. Ich konnte gerade deine Hoteladresse in Lindau nicht mehr finden.»

«Ich wüsste nicht, was ich darüber wissen könnte. So nahe stehen wir uns ja nicht. Der Mörder hat ihr am Fluss sicher aufgelauert.»

«Meinst du, er wollte bloss Geld von ihr? Dafür ermordet man doch niemanden. Aber der Inspektor hat erwähnt, dass in Rebeccas Handtasche Kreditkarten und Portemonnaie fehlten.»

Am nächsten Tag steht Kommissar Inderbitzin wieder vor unser Türe.

«Guten Tag, Herr Leuthard, Inderbitzin, und dies ist mein Kollege Leutnant Samuel Müller. Schön, dass wir Sie antreffen, wir hätten noch ein paar Fragen zum Unglücksfall ihrer Schwägerin.»

«Meine Frau hat mir alles erzählt. Das ist ja schrecklich. Und Sie glauben wirklich, dass es Mord war?»

«Wir müssen es annehmen, Herr Leuthard., Ihre Schwägerin hatte ein paar typische Merkmale am Körper. Aber darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Sagen Sie mir lieber, wo Sie die letzten drei Tage verbracht haben.»

«Ich war leider bei einem Business-Meeting, Hotel Bayrischer Hof. Darum habe ich erst gestern davon erfahren.»

«Können Sie mir einen Zeugen nennen, der mir bestätigt, dass Sie da waren.»

«Ja, sicher, das Hotel kann Ihnen meine Buchung bestätigen.»

«Nein, ich meine eine Person, die mit Ihnen gesprochen hat, oder noch lieber mehrere.»

«Verstehe, aber ich habe aber nur einen Kontakt, ich suche Ihnen die Angaben raus.»

«Die haben Sie nicht bei sich?»

«Nein, es war ein Herr, den ich zum ersten Mal getroffen habe. Fritz Werding, ich habe seine Visitenkarten irgendwo in meinem Gepäck.»

«Wie standen Sie denn zu Ihrer Schwägerin?»

«Na, ja, meine Frau hat es Ihnen vielleicht schon erzählt. Meine Schwägerin und ihr Mann denken ziemlich anders als wir, darum treffen wir sie auch nur auf Familienfeiern. Persönlich habe ich nichts gegen sie, vor allem ihr Mann geht mir auf den Geist.»

«Das reicht für den Moment, aber bitte Herr Leuthard, rufen Sie mich nachher gleich an, wenn Sie die Karte von Herrn Werding gefunden haben. Und dann erzählen sie mir mal noch, wann Sie nach Lindau angereist sind und was Sie dort drei Tage lang gemacht haben.»

Nun muss Fritz mein Alibi bestätigen. Das tut er sicher gerne. Ich kann ihm mit einem Augenzwinkern zu verstehen geben, dass es sich um eine kurze romantische Geschichte gehandelt hat. Dafür hat er Verständnis.

Was aber, wenn der Inderbitzin im Hotel nach der Buchung von Fritz fragt? Ich war da gebucht, aber kein Fritz Werding. Aber er könnte aus München ja mit dem eigenen Auto angereist sein.

Für die drei Nächte in Lindau muss ich mir noch was einfallen lassen. Angie war auch überrascht, als ich ihr die unerwartete Geschäftsreise angekündigt habe.

Und was hat Rebecca Anton erzählt an jenem Abend? Das ist eigentlich die wichtigste Frage. Wenn er zu viel weiss, kommt vielleicht doch noch alles ans Licht.

Am Montag verliess ich den Arbeitsplatz jeweils etwas früher. Der Montag war der wichtigste Tag in meiner Woche, weil ich ihn traf. Die ganze Woche sehnte ich mich nach ihm. Angie, die im Moment nicht arbeitete, hatte immer Mitleid mit mir, wenn wieder Montag war und ich früh aufstehen musste. Sie wusste nicht, dass der Montag seit zwei Jahren der schönste Tag für mich geworden war. Abends war ich im Tennisclub, glaubte sie. Dass ich da nur noch sporadisch hinging, zum Beispiel zur Generalversammlung, konnte Angie nicht wissen. Sie machte sich nichts aus Tennis. So durfte es am Montag auch mal etwas später werden, wenn wir, wie sie dachte, noch ein Bier trinken gegangen waren.

Wenn ich Markus traf, war ich in einer anderen Welt. Die Zeit verging wie im Flug. Nie war genug Zeit, um zusammen zu plaudern, zu essen, uns zu lieben. Wenn ich nach Hause kam, musste ich Müdigkeit vortäuschen, um mein Glück nicht zu zeigen.

Angie und die Kinder durften nichts wissen. Vor allem Angies strenggläubige Familie hätte mich zerfleischt, wenn sie gewusst hätte, dass ich eine Liebesaffäre mit einem Mann hatte. Ich wollte Angie nicht verletzen. Es war eine dumme Lage, in der ich da steckte. Aber meine Gefühle für Markus waren so stark, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Für ihn war das alles einfacher, er war Single. Manchmal störte es ihn, dass ich verheiratet war. Er wünschte sich, dass ich mich von Angie trennen würde. Aber das war im Moment undenkbar, wir hatten drei Kinder zusammen, die ich nicht verlassen konnte, nicht verlassen wollte. Unmöglich.

Jetzt war ich auf dem Weg zu ihm. Es waren nur ein paar Haltestellen mit dem Tram, dann wenige Schritte zu Fuss bis zu seiner Wohnung an der Erismannstrasse. Ich passte auf, dass niemand in der Nähe war, wenn ich drei Mal kurz klingelte. Markus drückte mir die Türe auf. Auf dem Weg in den 4. Stock traf ich meistens niemanden an. Aber heute öffnete sich die Tür im 3. Stock und eine ältere Dame mit Hündchen kam heraus. Ich lächelte sie an und grüsste sie höflich. Sie erzählte etwas über ihr Hündchen, das ein grünes Mäntelchen anhatte.

Markus hatte die Türe schon geöffnet und umarmte mich.

«Psst, im Treppenhaus ist noch die Dame vom 3. Stock mit dem Hündchen.»

«Ach, Frau Koller, die ist ganz nett, und sie ahnt nichts. Ab und zu bringe ich ihr mal ein Stück Kuchen oder sonst was Feines vorbei. Darum bin ich bei ihr sehr gut angeschrieben.»

Wir schmusten ein bisschen, aber dann riss Markus sich los. Es roch schon verführerisch in seiner Wohnung. Dieses Mal hatte er Spaghetti Palermitana gekocht, mit einem Salat dazu, der mit seiner legendären Sauce angemacht war. Es schmeckte herrlich. Wir tranken ein Glas Wein, aber nicht mehr, um auch den zweiten Teil des Abends geniessen zu können.

Wie immer war ich beschwingt und sehr, sehr glücklich, als ich drei Stunden später die Treppen wieder nach unten stieg.

Nur ein paar Meter vor mir ging eine Frau, die mir bekannt vorkam. Ich verlangsamte meine Schritte. Es war tatsächlich Rebecca, Angies Schwester, ich erkannte sie an ihrem zielstrebigen Gang, aber auch am Modell des Kinderwagens, den sie mit einer Hand vor sich herschob. An der anderen Hand hielt sie Lucas, besser gesagt, sie versuchte, ihn hinter sich herzuziehen. Lucas bückte sich alle paar Schritte, um am Boden etwas aufzuheben. Unwillig zerrte Rebecca ihn weiter. Sie hatte noch nicht zurückgeschaut, aber es war jederzeit möglich, dass sie sich umdrehte. Ich duckte mich etwas hinter eine Hecke. Doch in diesem Moment schaute sie nach hinten, genau in meine Richtung. Ich richtete mich ganz auf und ging die paar Schritte zu ihr.

«Hallo Robert, was für eine Überraschung, was machst du denn hier?» Sie brachte ein schräges Lächeln zustande. Ich hob Lucas hoch und warf ihn ein paar Mal in die Luft. Das liebte er. Er gluckste und strahlte mich glücklich an.

«Ich bin auf dem Heimweg, musste noch etwas erledigen in der Nähe.»

«Bist du nicht immer beim Tennisspielen am Montag? Ich dachte, …»

«Heute musste ich früher weg, um noch was Geschäftliches zu klären.»

Rebecca sah mich mit skeptischem Blick an.  

«Und du, wieso bist du mit den Kleinen noch unterwegs um diese Zeit?»

Rebecca erzählte mir etwas von einer Kinderparty, das ich nicht ganz mitbekam. In meinem Kopf kreiste es. Was würde sie Angie das nächste Mal erzählen? Und was ihrem Mann?

«Also, dann tschüss, ich beeile mich jetzt ein wenig. Gruss an deinen Mann.»

Ihren Mann, Anton, mochte ich noch weniger. So was von konservativ, wählte SVP, und dann diese heuchlerische Frömmlerei. Ich musste mich schon oft zusammennehmen, wenn Anton an einem Familienfest wieder mal eine schwulenfeindliche Bemerkung fallen liess. So quasi, so etwas kann Gott ja nicht gewollt haben, dann gäbe es ja gar keine Kinder, ha, ha, ha. 

Ich winkte Lucas zu und ging die Strasse wieder zurück, damit ich nicht in die gleiche Richtung wie Rebecca laufen musste. Im Vorbeigehen schaute ich ganz kurz zu Markus Küchenbalkon hinauf. Er stand immer noch da, wie er es manchmal tat und winkte mir zu, als ich jetzt wieder an seinem Haus vorbeiging. Ich tat, als ob ich ihn nicht gesehen hätte. Aber ein flüchtiger Blick zurück zeigte, dass Markus Rebecca entdeckt hatte. Sie starrte mir nach. Hatte sie wirklich gesehen, dass Markus mir zugewinkt hatte?

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