Von Anni Spreemann

„Nein, ich will dieses doofe Kleid nicht anziehen“, schreit das achtjährige Mädchen und stampft wütend mit dem Fuß auf.

„Aber du bist doch auf einer Anna und Elsa Party eingeladen. Oma hat dir extra das Kleid genäht. Schau wie schön der blaue Stoff glitzert. Ich wünschte, ich hätte in deinem Alter so ein großartiges Kostüm gehabt.“ sagt Helena und streichelt über den Stoff.

„Anna und Elsa sind doof! Ich will lieber Christoph sein.“

„Ist das nicht der Elch?“, fragt sie verwundert.

Das Kind schüttelt den Kopf. „Nein, der heißt Sven.“

„Christoph ist aber ein Junge“, erklärt die Mutter genervt.

Sie verstand ihre Tochter nicht. Sie mochte doch den Film.

„Na und! Er ist lustig, hilft allen und hat ein Rentier als Freund. Darf ich auch ein Haustier haben?“

„Nein, aber du darfst das Kleid anziehen“, sagt Helena und hält es ihrem Töchterchen vor die Nase.

„Ich will aber nicht. Ich will Christoph sein“, antwortet sie stur.

„Du hast aber lange Haare. Du kannst nicht Christoph sein.“

„Lange Haare sind doof. Ich will kurze Haare haben.“

„Mit deinen langen Haaren siehst du so süß aus“, versucht es die Mutter noch einmal.

„Ich bin nicht süß. Ich bin groß, mutig und stark.“

„Dann gehe ich nicht mit dir in den Dino Park“, droht Helena mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du hast es aber versprochen“, antwortet das Kind entsetzt.

„Ungezogenen Kindern brauche ich nichts zu versprechen“, setzt sie ihr Kind unter Druck.

„Du bist gemein.“

„Ich verstehe, wenn du wütend auf mich bist. Ich bin nicht gemein. Ich möchte nur, dass du auf mich hörst. Ziehst du jetzt das blaue Kleid von Oma an?“

„Ja“, sagt das Mädchen geschlagen und lässt sich das Kostüm anziehen. Ihre Mutter ignoriert den Schmollmund und strahlt sie an.

„Sehr gut. Ich mache noch schnell ein Foto von dir, damit Oma dich darin sehen kann. Bitte Lächeln.“

„Ich will lieber Christoph sein!“, begehrt die Kleine ein letztes Mal auf. Helena hebt drohend den Zeigefinger.

„Denk an den Dino Park.“

 

 

Mit zügigen Schritten läuft Tobias durch die schwüle Sommerluft nach Hause. Er muss sich beeilen. Wenn Phillip vor ihn ankommt und vor der Tür steht…  Zum Abschied hatte er ihm sein Geheimnis anvertraut. Er war feige gewesen und erzählte es ihm erst, als der Zug einfuhr. Sie hatten sich geschrieben und Fotos geschickt, aber noch nicht darüber gesprochen. Das war nun 6 Wochen her. Er durfte seinen Freund nicht verlieren. Nur noch ein paar Häuserblocks, dann ist er da.

Kleine kalte Regentropfen landen auf seinen freien Oberarmen. Es verursacht ein unangenehmes Kribbeln, als würden die Arme einschlafen und nicht ausreichend mit Blut versorgt. Besorgt schaut er zwischen der Häuserzeile zu den Wolken. Sie werden immer dicker und auch die Luft fühlt sich schwerer an. Dann passiert es. Ein Vorhang aus Regen kommt auf ihn zu. Fasziniert beobachtet er, wie die Regentropfen in rasender Geschwindigkeit den Bornstein bewässern. Gleich hat es ihn erreicht. Verzweifelt sucht er nach einem Unterstand und entdeckt einen Hauseingang. Er rennt darauf zu, doch der kalte Vorhang ist schneller. Als hätte jemand die Dusche angestellt, ergießt sich der Regen über ihn. Sein Blick verschwimmt. Seine Haare kleben. Das Wasser fließt übers Gesicht zum Schlüsselbein in seinen Ausschnitt die Brust hinab zum Bauchnabel und wird schließlich vom Hosenbund der Jeans aufgesaugt. Endlich erreicht er den Unterstand und er schüttelt sich wie ein Hund. Unbemerkt landen Wassertropfen auf dem Glas des Hauseingangs. Die kleinen Perlen gehorchen dem Gesetz der Schwerkraft und rutschen die Scheibe herunter. Tobias zückt sein Handy und schreibt eine Nachricht: Hi Phillip. Warte den Schauer ab und bin dann da. Freu mich auf dich.

Sein Shirt klebt am Oberkörper und er überlegt, ob er es ausziehen und kurz auswringen sollte. Stirnrunzelnd betrachte er die dunklen Wolken. Hätten sie nicht noch ein paar Minuten warten können? Leider hat er keine Jacke oder ähnliches mitgenommen und fühlt sich wie ein Gefangener. Nur bestanden seine Gitterstäbe aus Schnurregen. Neidvoll blickt Tobias auf die Leute mit Regenschirm. Eine asiatisch aussehende Frau geht unter ihren roten Schirm die Straße entlang. Genüsslich schleckt sie ein rotes Eis und lauscht den Klängen ihres Kopfhörers. Sie strahlt Würde und Gelassenheit aus, als hätte sie den Regen extra für diesen einzigartigen Moment bestellt. Tobias versucht sich abzulenken und lässt den Blick schweifen. Der Altbau gegenüber ist mit Stuck verziert. Zwei nackte Männer aus Stein blicken vom Eingangstor hinab. Ihre untere Hälfte verschwindet in einem floralen Muster.

Wie es Phillip wohl geht? Ob er sich freuen wird, mich zu sehen, überlegt Tobias.

Verwundert betrachtet er einen Piraten. Mit dreieckigem Hut, weißem Hemd und altmodischer Weste schlendert er gemütlich den Weg entlang. Ist hier irgendwo ein Kindergeburtstag?

Plötzlich rennt jemand in seinen Unterschlupf hinein. Seine Kapuze ist weit ins Gesicht gezogen und sein Nachbar bleibt unbemerkt. Der Fremde schaut auf sein durchweichtes Buch. „So ein Mist“, flucht er. Tobias versteift sich. „Phillip?“

Der Unbekannte dreht sich um und nimmt die Kapuze ab. Schwarze Augen strahlen ihn an. „Tobias“, sagt er und öffnet seine Arme.

„Ich habe dich so vermisst“, sagt Tobias und fängt an zu schniefen. Seine Unterlippe zittert und unkontrollierte Tränen wandern zum Kinn. Vermischen sich mit den Regentropfen seiner nassen Haare. Sie umarmen sich.

„Ist ja gut. Ich bin wieder zurück und diesmal für immer“, beruhigt ihn Phillip und streichelt über seinen Rücken.

Tobias schaut ihm in die Augen und wartet, bemerkt wie sich sein Blick verändert. Begierde durchströmt seinen Körper und er küsst ihn. Legt seine ganze Sehnsucht und Freude in diesen Kuss, der mit gleicher Leidenschaft erwidert wird.

Atemlos und glücklich lösen sie sich voneinander. „Jetzt lerne ich endlich deine Eltern kennen“, sagt Phillip und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

Tobias streicht sich nervös durch seine dunklen Locken. „Freu dich nicht zu früh. Sie sind sehr anstrengend.“

„Wir schaffen das schon.“

 

Sie sitzen am Küchentisch. „Mom und Dad sind bestimmt gleich da. Ich mache uns solange einen Kaffee“, versucht Tobias die unangenehme Situation zu lockern. Phillip betrachtet in der Zwischenzeit die Bilderwand. „Wissen deine Eltern von mir?“

„Sie wissen seit drei Jahren, dass ich mich mit dir treffe“, sagt er und holte zwei Tassen aus dem Schrank.

„Ich wollte nicht wissen, wann wir uns kennengelernt haben. Wissen sie von UNS“, sagte er genervt und entdeckt ein Foto mit Phillip und seinen Eltern.

„Ich habe ihnen vor einem Monat erzählt, dass wir zusammen sind“, murmelt er kleinlaut.

Phillip schnaubt entrüstet und betrachte weiter die Fotowand. Vor sechs Monaten hatten sie sich das erste Mal geküsst. Tobias war sehr schüchtern gewesen und wollte es langsam angehen lassen. Es verunsicherte und verletzte Phillip. Erst als ihn Tobias sein Geheimnis verriet, verstand er es. Seine Liebe zu Tobias änderte sich dadurch nicht.

„Die ist ja süß. Ist das deine Nichte, von der du mir erzählt hast?“, fragt Phillip.

Tobias geht zur Wand, betrachtet das Bild mit der Prinzessin im blauen Kleid und schütteltet den Kopf. „Ich verstehe gar nicht, warum Mom dieses Bild nicht abnimmt. Sich immer wieder daran zu erinnern, macht mich traurig. Sie sollte es einfach vergessen. Ich hasse dieses Bild.“

„Wieso?“

„Das ist das letzte Bild von ihrer Tochter“, antwortet Phillip trocken.

 

Helena drückt ungeduldig auf die Türklingel.

Eine verzweifelte Mutter öffnet sie mit einem Redeschwall. „Es tut mir so leid. Ich war gerade dabei das Abendbrot für die Mädels zu machen.“

„Was ist passiert?“, fragt Helena und drängelt sich an der Mutter vorbei. Überall waren Wimpel und Luftballons aufgehängt. Der Geruch von Nudeln und Würstchen hing in der Luft. Geschenkpapierschnipsel lagen auf dem Boden herum. Die andere Frau folgt ihr und redet weiter: „Ich weiß nicht, warum ich nicht gleich ins Kinderzimmer gegangen bin. Es war auf einmal so ruhig. Das hätte mich Warnen müssen. Sie sollten ihre bemalten Kronen ausschneiden.“

Helena erreichte das Kinderzimmer und erstarrte.

„Es tut mir leid“, sagte die Mutter des Geburtstagskindes verzweifelt. Lauter kleine Annas und Elsas sahen beschämt zu Boden. Einige hatten Scheren in der Hand.

„Ich will Christoph sein“, erklärte ihr Kind mit verschränkten Armen und schaute Helena trotzig an. Es trug eine Hose, ein viel zu großes Hemd und hatte kurzgeschnittene Haare, sodass die dunklen Locken in alle Richtungen abstanden.

 

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