Von Raina Bodyk

Bill Harper blättert traurig und gleichzeitig amüsiert in dem Tagebuch, das Joshua Norton ihm vor ein paar Wochen überlassen hat:

 

 

15.09.1859

Wenigstens hat mein winziges Pensionszimmer einen Spiegel! Letzter, prüfender Blick, bevor ich in mein neues Leben starte: Blaue Paradeuniform mit goldenen Epauletten und blitzenden Messingknöpfen, Biberfellkappe mit Straußenfeder. Links der schwere Säbel und rechts mein Wanderstock. Perfekt!

 

Bevor ich die anderen Tageszeitungen aufsuche, gehe ich zum San Francisco Bulletin. Den Herausgeber Bill Harper kenne ich von früher, als ich noch einer der reichsten Kaufleute der Stadt war.

Ich drücke ihm die Meldung, die er veröffentlichen soll, in die Hand. Harper erkennt mich fast nicht: „Sind Sie das, Norton? Wo haben Sie die letzten zwei Jahre gesteckt?“

„Na ja, der Bankrott nach meiner grandiosen Fehlspekulation hat viel Staub aufgewirbelt. Ich wollte in Ruhe nachdenken. Mir wurde klar, dass unser Land Veränderung braucht. Überall korrupte Politiker und ihre offene Missachtung der Gesetze. Die Menschen brauchen wieder Vertrauen. Sie brauchen mich!“

Harper liest gespannt die ersten Sätze. Verdutzt und fassungslos zieht er seine buschigen Augenbrauen hoch. „Ist das ein Scherz?!“

„Nein, durchaus nicht.“

„Aber das geht nicht! Was soll diese verrückte Aktion?“

„Es gibt so viel zu tun: der Rassismus und die Ausbeutung der Indianer müssen aufhören. Wir brauchen mehr religiöse Toleranz, Arbeitsplätze, niedrigere Steuern. Die Leute benötigen wieder Zuversicht.“

Der Chefredakteur kommt dazu und vertieft sich in meine Proklamation. Er kann kaum aufhören zu lachen. „Sensationell! Das müssen wir bringen!“ Dann eben auf diese Art!

 

17.09.1859

Geschafft! Heute steht es in allen Zeitungen:

„Ich, Joshua Norton, […] seit neun Jahren und zehn Monaten in San Francisco, Kalifornien, lebend, nehme die Forderung einer großen Mehrheit der Bürger vorweg und ernenne mich hiermit selbst zum Kaiser und Herrscher der Vereinigten Staaten.“ (1)

 

18.09.1859

Es gehört nun zu meiner täglichen Pflicht, morgens nach dem Lesen der führenden Zeitungen (immer informiert sein, ist wichtig!) mein Reich zu inspizieren: Den Zustand der Wege, die Pünktlichkeit der Cable Cars, das korrekte Aussehen der Polizei, den Fortschritt von Bauten. Meine Augen sehen alles, Nachlässigkeiten dulde ich nicht. Selbstverständlich melde ich der Stadtverwaltung sofort alle entdeckten Mängel.

Nahe am Volk zu sein und ihm zuzuhören, liegt mir sehr am Herzen. Aber immer korrekt in Uniform!

Bald kennen sie mich alle. Morgens überreicht mir der Blumenmann von gegenüber eine rote Nelke zum Anstecken. Die Leute sprechen mich respektvoll an und begrüßen mich mit einer Verbeugung. Sie schenken mir sofort ihr Vertrauen.

Immer wieder werde ich eingeladen, bei Streitigkeiten zu schlichten, bei Familienfehden zu vermitteln. Wohlwollend lausche ich den zahlreichen Problemen und Sorgen:

„Eure Majestät, die Steuern sind zu hoch. Wie soll ich meine Familie ernähren?“

„Meine Frau ist krank. Ich kann den Doktor nicht bezahlen.“

„Hoheit! Wir hausen mit fünf Kindern in einem Loch. Der Schimmel macht uns krank.“

„Meine Untertanen! Ich weiß! Ich werde mich darum kümmern.“

Das Elend überall bedrückt mich sehr. Ich werde dem Bürgermeister befehlen, sich schleunigst um diese Angelegenheiten zu kümmern.

 

25.09.1859

Heute war ich in einem jüdischen Gottesdienst. Da uns die Geschichte immer wieder gezeigt hat, dass Religionen ganze Staaten und sogar Familien entzweien, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, jede Woche die Kirche eines anderen Glaubens zu besuchen. Meine Vision ist eine Universalkirche, in der alle vereint sind.

Mein Volk liebt mich auch dafür. In aller Bescheidenheit sage ich ihm Danke!

 

12.10.1859

Da Amerika nun einen Kaiser hat, wird die bisherige Regierung nicht mehr benötigt und heute per Edikt von mir aufgelöst.

 

14.01.1860

Wie unverschämt! Der Kongress tagt einfach stur weiter! Daher ergeht die Weisung:

Es ist höchst notwendig für das Ansehen unseres Reiches, dass diesem Erlass strikt Folge geleistet wird; und deshalb geben wir hiermit Befehl und Anweisung an Maj.Gen. Winfield Scott, dem Kommandeur unserer Armeen, unverzüglich mit gegebenem Nachdruck die Kongresshalle zu räumen. (2)

 

 

9.03.1861

Ich liebe Kinder und sie mich. Sie erzählen mir von ihren Träumen und mehr noch von dem, was sie bedrückt. Da ist mir heute eine prächtige Idee gekommen. Ich werde den Traurigen und den besonders Mutigen unter ihnen einen Orden stiften und sie jeweils ‚zur Königin oder zum König für einen Tag‘ machen. Das wird sie freuen und stärker machen.

 

21.01.1867

Heute ist mir Armand Barbier passiert! Dieser … dieser Polizist! Beschuldigt mich, seinen Kaiser, ein Stadtstreicher und völlig irre zu sein. Verhaftet mich!

Mit dem darauf erfolgenden, empörten Aufschrei meines Volkes und der Presse über diese ungeheure Majestätsbeleidigung hat er bestimmt nicht gerechnet!

Die Daily Alta schreibt dazu etwas über mich, das mich sehr stolz macht:

„Solange er das kaiserliche Purpur getragen hat, hat er kein Blut vergossen, niemanden beraubt und niemandes Land geplündert, was mehr ist, als man von einem seiner Politikgenossen da oben sagen kann.“ (3)

 

22.01.1867

Polizeikommandant Patrick Crowley ist sichtlich peinlich berührt. Er entschuldigt sich eiligst für den Hochverrat. Nach kurzem, taktischem Zögern vergebe ich ihm huldvoll, ebenso dem armen, fehlgeleiteten Barbier. Seit diesem groben Unrecht erweisen mir die Beamten ihre respektvolle Ehrenbezeugung, sobald sie mich erblicken.

 

29.03.1869 

Meine Uniform ist fadenscheinig geworden. Um meine Würde zu wahren, muss dringend eine neue her. Die Schreiberlinge sollen das morgen drucken:

„Hiermit mache ich euch darauf aufmerksam, dass Wir, Norton I., Kaiser Dei gratia der Vereinigten Staaten und Protektor von Mexiko, ernsthafte Beschwerden haben, dass unsere kaiserliche Garderobe eine nationale Schande ist.“ (4)

 

31.03.1869

Auf meine Stadt ist Verlass! Die Verwaltung spendiert mir in einer feierlichen Zeremonie eine neue Uniform. Werde morgen sämtliche Angehörigen des Rates in den Adelsstand erheben.

 

2.07.1873

Die immer wieder angefachten, antichinesischen Demonstrationen, die manchmal blutig ausarten, machen mir Sorgen. Verantwortungslose Politiker schüren die Gerüchte, dass sie den Amerikanern ihre Arbeitsplätze wegnehmen. Sie sollten weniger Unsinn reden und mehr gegen das Elend tun!

Gestern geriet ich selbst zwischen die Fronten der Demonstranten und der angegriffenen Chinesen. Ich blieb ganz ruhig und stellte mich vor die Menge. Faltete die Hände und betete laut: „Vater unser im Himmel …“ Ich habe das Vaterunser so lange wiederholt, bis sich die Gemüter beruhigt hatten und sich die Meute unblutig zerstreute. Mich nicht zu respektieren, ist eine Sache. Aber wenn sie IHN nicht mehr achten …

 

17.12.1876

Habe heute Bill Harper getroffen. Er informierte mich, dass ein Autor ihn in seiner Redaktion besucht habe und ein Buch über mich schreiben wolle. Ich dachte, er zieht mich auf, aber er meinte es ernst!

Ich befürchte allerdings, dass meine politischen Gegner Lügen über mich verbreiten werden. Darum werde ich Bill mein Tagebuch übergeben, damit er ein Auge darauf hat.

Ich kenne die ausgestreuten Gerüchte, dass ich ein Bettler und Schmarotzer sei. Deshalb noch mal ausdrücklich: Ich bin weder das eine noch das andere.

Ein Kaiser bettelt nämlich nicht um Geld! Im Gegenteil, ich gebe seit Jahren eine eigene Währung heraus, Banknoten im Wert von fünfzig Cent bis zehn Dollar. Niemand hat je dieses Zahlungsmittel verweigert.

Einmal jährlich fordere ich bei Bankiers und reichen Kaufleuten der Stadt die fälligen Steuern ein. Aber nie mehr als zehn Dollar. Bin bekanntlich gegen hohe Abgaben. Die Zahlungsmoral ist ungewöhnlich gut, muss ich sagen.

Für mich brauche ich kein Geld. Daher gehen die Steuererträge an die Armen.

Restaurants und Geschäfte rechnen sich meinen Besuch zur Ehre an. Niemand hat mir je eine Rechnung ausgestellt. Immer heißt es „Never mind, Emperor!“

Aus Hochachtung und Zuneigung sind seit vielen Jahren für mich zu allen Premieren einer Veranstaltung Logenplätze reserviert.

 

7.08.1877

Habe gerade wieder an Queen Victoria geschrieben. Wir führen eine äußerst ersprießliche Korrespondenz. So manches Mal konnte ich ihr schon in komplizierten, politischen Lagen raten. Stehe auch mit anderen Staatsoberhäuptern in Briefkontakt. Als Pedro II. von Brasilien den USA einen Besuch abstattete, besuchte er auch mich. Guter Mann! Sehr ergiebiges Gespräch.

Nur im eigenen Land … Während des Bürgerkriegs bot ich mich Präsident Lincoln als Vermittler an. Doch er lehnte höflich ab.

Solche internationalen Beziehungen gehören zweifellos zu den schwierigsten, diplomatischen Aufgaben eines Landesvaters.

 

*

 

Der San Francisco Chronicle titelt am 9.01.1880:

„Le Roi est mort.“ (5)

Die Menschen lesen erschüttert, dass Seine Majestät Norton I. am 8. Januar 1880 auf dem Weg zur National Academy of Sciences gestorben ist.

Geschäftsleute spenden für eine feierliche Beerdigung. Ihr Kaiser soll nicht in einem Armengrab verscharrt werden.

Menschen aller Schichten pilgern ergriffen seit dem frühen Morgen zu dem winzigen Hinterzimmer, in dem er aufgebahrt ist. Tausende wollen einen letzten Blick auf den bescheidenen Mann werfen, der ihr Herz gewonnen hat. Viele bittere Tränen fließen.

Dreißigtausend Menschen säumen am Tag der Beisetzung den Weg zum Friedhof. Alle Flaggen hängen auf Halbmast, viele Geschäfte haben geschlossen.

Eingemeißelt in den Grabstein ist zu lesen: „Norton I. Kaiser der Vereinigten Staaten, Schutzherr von Mexiko“.

 

 

Harper schließt das Tagebuch.

Er ist dankbar, in einer Stadt zu leben, in der man das Skurrile ehrt und so tolerant und humorvoll ist, einen Kaiser in seiner Mitte nicht nur zu dulden, sondern ihn zu vergöttern.

 

Später einmal wird sich die Nachwelt fragen: Was ist wahr, was Legende, was übertrieben?

Es gab seine royalen Erlasse, den Briefwechsel mit Queen Victoria und den Besuch Pedros II.

War Norton verrückt? Exzentrisch? Gar weise?

 

 

 

 

 

(1)(2)(5)  http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Joshua_Norton.html

(3)          Übersetzt von: http://emperornortontrust.org/emperor/life
(4)          https://pagewizz.com/norton-i-kaiser-der-vereinigten-staaten-von-amerika-33320/