Von Caroline Jansen
Heute sollte es passieren.
So hatte es zumindest in der SMS gestanden, die sie heute Morgen erhalten hatte.
Angespannt saß sie auf dem Stuhl und wartete. Dann endlich…
Das Zuschlagen der Nachbartür hallte durch den ganzen Flur des Mehrfamilienhauses.
Nadine hielt den Atem an. Schon seit Stunden verharrte sie in ihrer Wohnung gegenüber. Hatte gewartet, dass er rauskommt. Sie lauschte. Schritte erklangen auf der Treppe. Er ging in den Keller. Als die Schritte nicht mehr zu hören waren, krampften sich ihre Hände zusammen und sie zählte die Sekunden. Kaum waren zwei Minuten vergangen, da kamen die Schritte wieder nach oben. Im normalen Tempo. Ohne Hast und Eile. Als wäre nie etwas gewesen.
Ihr Puls beschleunigte sich.
Als er endlich wieder in seiner Wohnung verschwunden war, sprang sie zur Tür und öffnete sie so leise und langsam wie möglich.
War er wirklich in der Wohnung?
Schräg gegenüber tat sich nichts mehr.
Aber sie durfte nicht mehr länger warten.
Auf leisen Sohlen huschte sie aus der Wohnung und hastete die Flurtreppe runter. Als sie den Keller erreichte, kam es ihr vor, als würde sie einen unheilvollen Ort betreten.
Der Gang mit mehreren Türen, ein Kellerzimmer pro Wohnung, kam ihr diesmal ellenlang vor. Sie hielt inne, als sie vor der Tür stand. Es war nicht ihr Kellerraum. Und es war auch nicht ihr Kellerschlüssel, den sie aus der Hosentasche rausholte. Das ekelhafte Gefühl wurde von Übelkeit abgelöst. Aber das, was sich hinter der Tür abspielte war schlimmer.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und wagte sich ins fremde Territorium.
Der Keller war düster. Zögernd knipste sie das Licht an. Neben den Regalen und einem alten Fahrrad stand er in einer einsamen Ecke.
Der Tiefkühlschrank.
Im kalten Neonlicht erschien er ihr jetzt wie ein Sarkophag.
Die letzten Meter rannte sie. Es war schon zu viel Zeit vergangen.
Mit Ächzen schob sie die Kühltür auf. Das rauchende Eis war wie der Hauch des Todes. Ihr Blick huschte über die Fächer.
Wo waren sie?
Sie öffnete ein Tiefkühlfach nach dem anderen und schob ein paar Plastiktüten beiseite.
Da waren sie.
Ein Anblick, den sie nie sehen wollte.
Beherzt griff sie danach. Die erste kleine Tüte, die sie rauszog, war nicht schwer. Ebenso eine weitere Tüte desselben Inhalts. Mehr konnte sie nicht finden. Es waren nur zwei.
Eilig schloss sie das Kühlregal, als würde jeden Moment der schwarze Mann hinter ihr auftauchen. Mit zittrigen Beinen schlüpfte sie aus dem fremden Kellerzimmer, rüber zu ihrem eigenen Keller. Dort angekommen steckte sie die beiden Plastiktüten in eine Einkaufstasche mit Kleidung.
Erleichterung, aber auch Angst, machte sich in ihr breit, als sie endlich die Tür ihrer Wohnung hinter sich schloss. Ihr Blick hing über der Einkaufstüte.
Sie mussten aufgewärmt werden. Aber nicht zu schnell.
Hastig leerte sie den Inhalt auf dem Sofa aus. Die Plastiktüten platzierte sie auf den Wohnzimmertisch und schnitt das Plastik mit einer Schere auf.
Sie fühlte Haut. Glatte geschmeidige Reptilienhaut. Vorsichtig zog sie ein ungefähr 20 cm langes, dickes Etwas heraus. Es war schlaff. Völlig kraftlos. Und kalt. Aber noch nicht gefroren. Oder hatte die obere Hautschicht bereits Eiskristalle in den Zellen gebildet?
Das Wesen rührte sich nicht. Ob es noch lebte?
Sie hatte keine Erfahrungen mit CO2-Betäubungen.
Wie lange hatte er die beiden diesem Gas ausgesetzt?
Ganz sachte bettete sie die beiden Schlangenbabys auf ein Tuch, riss anschließend die Balkontür auf und ließ die warme Sommerluft ins Zimmer strömen.
Die Augen der beiden kleinen Schlangen waren weit geöffnet. Aber sie konnten genauso gut auch tot sein.
Eilig holte sie ein Stethoskop heraus und hielt es mit zittrigen Fingern an den kleinen Brustkorb.
„Ich habs in die Tiefkühle gelegt“, grunzte jemand im Hausflur.
„Warum musst du das auch machen?“, fragte eine Frauenstimme.
„Mensch! Die Classics bringen nichts ein!“ Es klang fast wie eine Verteidigung. „Kriegste nicht mal gescheit verschenkt. Das geht nur noch als Futter raus.“
Nadine hob kurz die Hand, als sie an dem Nachbarn Herr Krollow vorbeiging, der sich mit seiner Schwägerin Bärbel unterhielt.
Herr Krollow betrieb eine private Königspython-Zucht.
„Ich häts auch in die Tiefkühl meiner Wohnung stecken können“, hörte sie ihn weiterdiskutieren. „Aber der funktioniert nicht.“
„Was kann ich dafür, wenn dein Kühlschrank kaputt ist“, meinte seine Schwägerin spitz. „Als ich ihn zuletzt bei dir geöffnet hatte, war er noch völlig in Ordnung.“
Nadine verließ das Mehrfamilienhaus und ging an einer Reihe parkender Autos vorbei. Bei einem stand das Fenster halboffen. Ohne reinzuschauen warf sie den Kellerschlüssel durch den Fensterschlitz.
Nachdenklich ließ Nadine sich in den Sessel fallen. Das Gespräch von heute Mittag wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Mechanisch angelte sie nach einem Stapel Terraristik-Hefte und zog eine bestimmte Ausgabe der Reptilia heraus. Auf dem Titelbild war der Kopf eines schönen braun-weiß gefleckten Königspythons abgebildet.
Sie blätterte durch. Schöne Königspythons in den schönsten Farben und Zeichnungen waren darin abgebildet.
Neue Farben für den König, prangerte als Titel.
Im Laufe der Königspython-Zucht waren so viele Farben entstanden, dass man sie kaum noch zählen konnte. Jede Farbform trug einen eigenen Namen.
Zum Beispiel der Champagner, eine schöne Kombination mit Gelbanteil und Untervariationen, dass selbst der geschickteste Maler nicht zustande hätte bringen können.
Nicht zu vergessen der Piebald, weiße Tiere mit gescheckten braunen Flecken in den unterschiedlichsten Variationen.
Dann noch Specter, Superstripe, Yellowbelly, Ivory, oder die schneeweiße „Lucy“, dennoch war sie kein Albino. Oder Gravel, oder der Bumblebee, eine gelbe Grundfarbe mit dunklem Netzmuster, wie die einer verzierten Biene…
Es war alles bei weitem eine Wissenschaft für sich geworden die Kunst der Genetik in der Zucht zu verstehen. Die Kunst Farben zu erschaffen.
So viele Farben, dass eine davon immer mehr und mehr verblasste.
Die Classic, die wildfarbene Form. Dunkelbraune Haut mit verschiedensten hellbraunen Mustern. Die Farbe mit der alles in der Königspython-Zucht begonnen hatte.
Die Welt verfing sich immer mehr und mehr im Wahn neue Farben zu gestalten, dass man sich mehr und mehr vom Ursprung entfernte. Für viele war sie schon genetischer Abfall geworden. Sie war zu normal. Nicht mehr gefragt. Zu langweilig. Für die meisten.
Das Original wurde links liegen gelassen, wenn es niemanden mehr interessierte. Wenn es niemand mehr kaufte.
Es war nur noch wertlos.
Ein Lebewesen, das eine wertlosgewordene Farbe auf der Haut trug.
So wertlos, dass es keinen störte, wenn es getötet wurde. Wegen seiner Farbe.
Die Nacht war lau und schwül. Es war unmöglich richtig einschlafen zu können.
Nadine reckte sich auf dem Sofa. Das Licht im Wohnzimmer war auf Dämmerlicht geschaltet. Die Gardinen des offenen Balkons bewegten sich im leichten Abendwind.
In der Plastik-Box neben ihr bewegte sich etwas. Mühselig richtete sie sich auf und hob den Deckel hoch. Eingebettet auf Küchenpapier und zusammengerollt schauten ihr vier kleine ängstliche Augen entgegen.
Es hatte eine Weile gedauert bis sie aus der Betäubung erwacht waren. Bleibende Schäden schienen sie nicht davongetragen zu haben.
Langsam schob sie ihre Hand vor. Rückartig zogen die kleinen die Köpfe in ihre Körper ein, wie eine Schildkröte. Doch dann musste eines davon gähnen. Das rosa Mäulchen des Classic-Königspython-Babys hob sich kontrastreich von seiner „langweiligen“ Farbe ab.
Wenn Farben nur eine Illusion wären, wäre ihnen der Gang in die Tiefkühltruhe wohl erspart geblieben.
Nadine knipste ein Foto von den beiden Schlangenbabys und schickte es an die Nummer, von der sie die SMS bekommen hatte. Es verging keine Minute, da kam die Antwort zurück.
„Danke Nadine. Gruß Bärbel.“
Eines der Babys reckte den Hals und züngelte neugierig, wobei sich der Brustkorb leicht auf und absenkte. Das Herzchen war noch am schlagen. Vielleicht schlug es noch 30 Jahre weiter. Mit etwas Glück vielleicht sogar 40 Jahre.