Von Kornelia Wulf

Es leuchtet in mein Zimmer hinein. Dieses krasse Orange. Wärmt das unendliche Weiß von Wand und Bett und Tür. Und für einen Moment glaube ich knisternde Flammen zu hören. Mich vor dem Kamin zu rekeln auf weichem Flor. Ein Kükenknäuel in der Hand. Den Kopf tief gebeugt, bauscht sich der Flaum. Und ich puste, bis er an meiner Nase kitzelt.

Als ich das Deckbett aufschlage, sieht meine Haut bläulich aus. Wie Zinnsoldaten ragen Härchen aus ihr heraus. Und den Morgenrock fest um die Schultern ziehend, spüre ich zwischen den Zähnen ein feines Beben. Hoffentlich fangen die nicht wieder zu klappern an. 

Warum heizen die hier nicht vernünftig ein?

Vorsichtig hangele ich mich an der Bettkante entlang. Von der Wade herauf tönt ein grässliches Reiben. „Verflucht“, herrsche ich meine Knie an, „reißt euch sofort zusammen!“ Nur noch drei Schritte zum Fenster. Dann tauche ich endlich ein. In dieses wohlige Licht, das in der Sonne zu glühen scheint. Meine Kuppen umfahren Konturen, schweben fast über Glas. Ich will dich doch nicht erschrecken, warte doch jeden Tag. Die zarten Adern ertastend, schau ich dich prüfend an. Der da oben wirkt wahre Wunder. Du musst schon wieder gewachsen sein. Gebeugt auf kleinen Beinchen – perfekt und nice geformt – verharrst du hinter dem Fenster, das ich nicht öffnen kann. Eingehüllt in einem Flattergewand, das kostbar wie Seide schimmert …

… und mich ein wenig blendet, als mein Blick – den Rücken fest gegen die Wand gestemmt – über Decke und Schränke wandert. Vielleicht haben die hier ja eine Überwachungskamera versteckt. Dieses schnüffelnde Auge soll heute ganz unscheinbar sein. Und klein. Die Knie gebeugt und steif gestreckt, raschelt mein pinker Morgenrock, aus dem Strohhalmarme ragen. Ganz tief rutsche ich an der Raufaser herab. Jeder Knubbel sticht, hält mein Schreien in Trab, bis der Po fast über Linoleum schabt. 

Zehn … elf … haltet durch, ihr faulen Memmen …  

… dann lassen sie mich hängen. Das Atmen klingt wie ein Bellen. Und ich glaube, dass etwas in mir bricht, als ich auf das eisige Betttuch zurücksinkend nach Luft ringe. 

Letzte Woche haben die mich in dieses Zimmer verschleppt.

„Strenge Bettruhe!“, schnarrte Dr. Rex.

Und das nur, weil ich nach der Waage getreten hatte. Am Dienstag. Unserem Wiegetag. Auf dem Weg über den Flur zog es mich wie ein Wackerstein hinab. Jedes verdammte Gramm, das sie mir aufgezwungen haben. Und als ich im Frühstücksraum das gekochte Ei aufschlug, grinste glibberiges Gelb mich verschlagen an. Auf dem Teller daneben häuften sich Brötchenhälften, dick bestrichen mit Nutella. Mein lieber Scholli, wie ich diese Nougatpampe hasse. Vollgepfropft mit leibhaftigem Zucker, der auf Hintern und Hüften springt. Ich puhlte ein paar Bröckchen aus der Kruste. Wartete auf den passenden Moment, eines der Schokoteile in den Ärmel der Bluse zu schieben. Dieser Trick stammt übrigens von Lesley. Monatelang schon halten die sie hier fest. „Trag immer Klamotten, die ordentlich bammeln“, keuchte es auf dem verbotenen Fitnesspfad, bevor sie beim zwanzigsten Liegestütz zusammenbrach. 

Ich zupfte dann an meinem Ärmel herum, an zwei Weißmehlkrümeln mümmelnd, als die Kant sich zu der Burger umdrehte. Frau Kant, unsere Oberdompteuse, die ihre Peitsche über Teller und Münder schwingt. „Die Frau mit den eisernen Kanten und Ecken“, flüstern hier alle, „Eiswürfel schwimmen in ihrem Blut. An der bleibst du stecken.“ 

„Hast du gestern Charlie und die Schokoladenfabrik geguckt?“, rief Kant der Burger zu. „Auf Sat1. Nein? Da hast du aber was verpasst. Oh Mann, dieser Depp. Für den würde ich sogar den Heinz von der Bettkante schubsen.“ 

Und während Schultern zuckten und die Schenkel dampften, ließ ich die kalorische Bombe auf Sofies Teller gleiten, die mit ernster Miene ihr Müsli mampfte. Geschieht ihr ganz recht. Immer schleimt sie sich ein, Sofie, die mittlerweile wieder fette Schnecke, zieht eine klebrige Spur hinter sich her, wenn sie sabbernd danach lechzt, seine Hände zu spüren. Die der Rex dann über ihre Schultern gleiten lässt und „Bravo“, flüstert, „Sofie, du nimmst das hier wirklich ernst.“

Wahrscheinlich darf die nächste Woche hier raus. So hörte man es zwitschern aus Therapeutenschnäbeln, in ihren sanft bebrüteten Räumen. Bis sie uns dann aus ihren Nestern schmeißen. Vollgestopft und rund.

Ach übrigens, die Kant hat mich dann doch entdeckt und mich sofort bei the Doc himself verpetzt.  Dem Tyrannus Rex, oder wie man den sonst so nennt. 

In der Hand hielt der Doc das Seil – und sein Blick traf mich wie ein Pfeil – mit dem wir unsere Kurven legen. Auf die Matten im Gymnastikraum, in dem wir uns immer ausruhen sollen. Wie ein Umriss sieht das aus, mit weißer Kreide gemalt. Von einem geschundenen Opfer, das sich nicht mehr wehren kann. Echt strange, was die mit uns hier machen. Doch eines weiß ich ganz genau. Die lügen hier alle. Manipuliert haben die das Seil, das ich als Schlinge um meine Mitte ziehen sollte. Vor meinen Augen ließ der Rex sie schaukeln, mich in diese Microöffnung schauen und als sein Urteil den dunklen Schatten warf, sah ich ein Baby darin baumeln. Ein letztes Mal habe ich mich getraut, vor den Spiegel zu treten. Und ihre Lüge brach auf, als ich auf Anni schaute. 

Anni, das Michelinmädchen.

Der Atem kehrt in meinen Brustkorb zurück. Er hebt und senkt sich im ruhigen Fluss, nur ein kleines Holpern, als ich nach dem Cover im Nachttisch greife. Rosa gefärbt. Aus purem Leder. Selbstverständlich vegan. Denn wer will seine Erinnerungen in totes Fleisch einpacken. „Hey Anni, super! Ein Tagebuch,“, hat der Rex gesagt, als er es sah, „hör bloß nicht auf zu schreiben.“ Na ja, manchmal kann ich den Doc schon ein bisschen leiden. Ein leiser Luftzug lässt meine Glieder frösteln, ich blättere in den Seiten. In dem Geschenk von Tante Inge, zu meinem achten Geburtstag.

… Sie spuckt in ihr Taschentuch – Gott, wie eklig, würg – rubbelt an dem Schaumkussrest in meinen Mundwinkeln herum. Die 4711 Finger wandern den Bauch herauf, bohren sich in die Rippen. „Babyspeck“, Tante Inge lacht laut, „verwächst sich wieder.“ Wie an einem lästigen Insekt gleitet Mamas Blick an mir herab, sie streift ihre glatte Front. „Uwe“, sagt sie, „jetzt hör mich mal an. Wir müssen dringend unsere Ernährung ändern.“ Und Papa schaut Mama so komisch an, nimmt ihre Augen in die Zange, „Edith, lass das Kind in Ruhe“, zischt er, als wüsste er etwas …

… Meine Finger umklammern schwitziges Holz, der Bizeps zittert und wimmert. Gleich habe ich das Ende des Barrens erreicht … „Hey, Miss Piggy, oink, oink,“, grölt Otto von der Matte herauf, „gleich kracht der Holm“, und ich spüre den Rüssel, der aus der Lippe kriecht, höre lautes Gelächter und knicke ich ein …

… „Uuuh, voll geil!“, Ina und Melly kreischen, während ich mich drehe und wende in diesem Wahnsinnskleid vor dem Spiegel in der Umkleide. Den Kopf fast zwischen die Schultern gedreht, entdecke ich nirgendwo eine Falte. Es passt genau. Perfekt der Sitz. Wie auf den Leib getackert. „Mann, Anni, wie hast du das nur geschafft“, haucht Ina, ihre Murmelaugen rollen, „du bist der Knüller für Heidi Klum. Also, sei nicht dumm. Ihre Knie werden den Boden küssen, wenn du dort aufschlägst …“.

… der schwarze Sweater schlackert, beult. Ich ziehe ihn über die Ohren. Und die Sonne knallt auf Bikinihaut, die in der Seeoberfläche flimmert. Das Modelface cool in Szene gesetzt, drehe und wende ich mich auf dem Steg. Und ich sehe wie Wellen, die an den Holzbohlen schwappen, sich im Duett mit meinen Speckwülsten rollen. Plötzlich – ein Keuchen – es zischt zwischen Inas Zähnen wie ein kaputter Luftballon – sie atmet mit Druck – als handele es sich um ihren letzten Atemzug – und Melly schreit, weint …

… Mamas Finger krallen sich in meinem Nacken, drücken die Nase fast in den Teller. „Du wirst jetzt deine Suppe essen“, schreit sie, „und wenn es zwei Wochen dauert.“ ….

 

Der Apfel kullert über die Nachttischplatte, als ich das Buch zurück in die Lade lege. Den hat mir gestern die Kant gebracht, nachdem sie – die eiserne Faust voll tiefenentspannt – mit nur einem Griff die Kanüle aus mir herausgezogen hat. Steter Tropfen höhlt den Stein, haben die sich wohl gedacht, doch es quoll in mich hinein. Wie dicke Tränen aus Zucker, Fett und auch noch Protein, obwohl ich – und das ist hundsgemein – es nicht einmal erkennen kann. Die rote Frucht schmiegt sich in meine Hand. Aalglatt fühlt sie sich an. Scheint ein Signal auszusenden, das mein Fasten brechen kann. Als die Zähne die Schale knacken, spüre ich ein unstillbares Sehnen. Doch schon bald füllt das Fleisch die ganze Höhle, bis es im Schlund steckenbleibt. 

Warum nur hat Eva im Paradies, diese heuchelnde Schlange berührt.

Das krasse Orange reißt meine Lider auf – ey, wie kann das sein, alle fünf Minuten nicke ich seit Dienstag ein – sprüht wie ein Feuerkreis. Flammt seinen Schein bis in den entlegensten blinden Flecken hinein.

„Bleibt Kumpel“, flehe ich meine Knie an, husche zu dir, so rasch ich kann und mein Kopf sinkt auf die Scheibe.

Und der Kaiser faltet seinen Mantel* aus. Braune Tupfen flattern – voll geil! – wie im Schokorausch. Exakt gespritzt auf orangenen Staub wie aus Tante Inges Sahnetülle. 

Und ich weiß es genau. 

Bald wirst du die gläserne Grenze durchbrechen. Und ich werde unter deine Flügel schlüpfen. Wir fliegen vereint, von allen Zwängen befreit. Zwei modellierte Körper – perfekt und nice – schweben durch die wilden Wiesen.

Unter nickenden Weiden raschelt schon Laub, noch einmal schmecke ich Blütenstaub. Ohne Zucker und Fett. Und das Eiweiß fehlt auch. Eine fette Hummel umsummt unserer Reise. Ihr brummendes Lied klingt klagend und leise. Und wenn der Mond sein Licht anknipst, bauscht sie den Pelz, wärmt meine bläuliche Seele.

Bald, ganz bald wird das sein.

Und ich schrumpfe zu einem Blütenblatt – ey, schon wieder fühl ich mich so fucking matt – und der Wind hebt mich auf. Leicht wie ein Hauch.

Fast ein …

Nichts.

*der Kaisermantel ist ein Schmetterling und gehört zur Familie der Edelfalter

 

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