Von Carola Hofmann

Claire freute sich darauf. Sie hatte zwar ein bisschen sparen müssen für diesen Samstag, aber das war ihr egal. Dafür stand ihr heute ein schöner Tag bevor. An der Pont Neuf wollten sie sich treffen und in dem kleinen Café auf der Ile de la Cité gemütlich frühstücken gehen. Sie freute sich auf den guten Café au lait und die Croissants, die es dort in verschiedenen Sorten zu kaufen gab. Gefüllt mit dunkler und weißer Schokoladencreme, Nougat und verschiedenen Marmeladen. Heidelbeere mochte sie am liebsten aber auch die Pain au chocolat waren ein Gedicht. Und von den bunten Macarons konnte sie gar nicht genug bekommen. Der locker-luftige Eischaum zerging auf der Zunge und dann erst die fruchtige Füllung aus Himbeere oder Schokolade. Schon bei dem Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

 

Schnell sprang sie aus dem Bett, verschwand im Bad und zog sich an. Es sollte warm werden, ein schöner angenehmer vorsommerlicher Samstag. Daher entschied sie sich für das geblümte rote Sommerkleid, dazu passende Sandalen, steckte sich die Haare hoch und rannte mit klappernden Absätzen aus dem Haus.

 

An der Metro Station Saint Michel Notre Dame stieg sie aus und da, am Ausgang, standen munter schwatzend schon ihre Freundinnen. Pauline, Anouk und Leonie warteten ungeduldig. Alle drei trugen kurze luftige Sommerkleider mit schwingenden Röcken und, typisch für sie, schwindelerregend hohe High Heels. Claire war es immer ein Rätsel, wie die drei Mädels überhaupt darin laufen, geschweige denn einen ganzen Tag scheinbar völlig problemlos durch die Gassen von Paris schlendern konnten. Sie selbst hatte es ein paar Mal versucht, vor allem dann, wenn sie in einem Schuhladen ein besonders hübsches Paar entdeckte. Leider musste sie immer wieder feststellen, dass sie darin nicht laufen konnte. Einmal war sie beim Anprobieren der Länge nach hingeschlagen und hatte Glück gehabt, dass der Fuß nur leicht verstaucht war und nicht gebrochen. 

 

Sie begrüßten sich wie üblich mit Wangenküsschen links, rechts, links und dicken Umarmungen. Leonie begann sogleich von einem nervigen neuen Kollegen zu erzählen, der seit drei Monaten in der Firma tätig war und ziemlich arrogant und wichtigtuerisch auftrat. Ein Benehmen, welches sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Alle drei waren zwar elegant gekleidet, aber keineswegs hochnäsig oder eingebildet. Sie waren nett, höflich, zuverlässig und für jeden Spaß zu haben. Claire schätzte sie sehr. 

 

Die vier steuerten nun geradewegs die kleine Patisserie an und ließen sich, typisch Pariserinnen, draußen an zwei nebeneinander stehenden Tischen mit Blick auf den Boulevard nieder. Der Kellner eilte sogleich herbei und nahm ihre Bestellung auf. Kaum war er wieder verschwunden, setzten sie ihre fröhliche Unterhaltung fort. Es gab viel zu berichten. Anouk hatte sich verlobt und wollte im kommenden Frühling heiraten. Pauline war ein Posten in einer höheren Position angeboten worden, dieser hatte jedoch zur Bedingung, dass sie dafür nach Marseille ziehen musste. Aber sie war doch Pariserin, fühlte sich in der mondänen Stadt sehr wohl und wollte nicht wegziehen. Andererseits bot sich so eine Chance wohl kein zweites Mal. Daher fragte sie ihre Freundinnen um Rat. Doch auch nach kurzem Nachdenken und dem Abwägen aller Vor- und Nachteile wurde klar, dass es in diesem Fall keinen Kompromiss geben würde.

 

Nach ihrem Frühstück spazierten sie weiter entlang der Seine in Richtung Eiffelturm. Die Touristen waren noch nicht da, die würden erst später auftauchen und so war die Uferpromenade noch wenig besucht. Nach gut einer halben Stunde erreichten sie den Jardin des Tuillerie und kurz darauf den Place de la Concorde. Von dort bogen sie auf die Champs-Elysees ein. Die große Prachtstraße mit den edlen Boutiquen bummelten sie jedes Mal mit großer Freude entlang. Claire liebäugelte schon seit Monaten mit einer Handtasche von Chanel und ein edles Halstuch von Hérmes, nur leisten würde sie sich das wohl nie können. 

 

Die Mädels blieben plötzlich vor Louis Vuitton stehen und Pauline rief entsetzt:

 

„Das gibts doch nicht, die Tasche, die ich haben wollte, ist nicht mehr da! Vor zwei Wochen stand sie noch im Schaufenster und nun ist sie weg!“

 

Die Mädels lachten. Als ob Pauline sich die Tasche hätte leisten können. Es war das absolute Luxusmodell gewesen, sozusagen der Ferrari unter den Handtaschen und weitaus teurer als das Modell, mit dem Claire heimlich liebäugelte. So spazierten sie noch einige Zeit die Champs-Elysees entlang und drückten sich die Nasen platt. Zwischendurch kamen sie immer wieder auf die Verlobung zu sprechen. Jede fragte sich insgeheim, wer von ihnen wohl Trauzeugin sein würde und wer sich mit dem Posten der Brautjungfer begnügen musste. Sie wagten es jedoch nicht, Anouk offen anzusprechen. Wenn sie sich entschieden hatte, würde sie es ihnen schon mitteilen und es waren ja noch ein paar Monate bis zur Hochzeit.

 

Gegen Mittag bogen sie in die Rue Balzac und dann rechts in die Rue Lord Byron ein, um im Hill, einem guten indischen Restaurant, zu Mittag zu essen. 

 

Es tat Claire gut, ihre Freundinnen um sich zu haben, denn manchmal fühlte sie sich doch sehr allein. Sie lebte ein bescheidenes Leben, hatte einen guten Job, der ihr Spaß machte, auch wenn die Eltern darüber die Nase gerümpft hatten. Für eine einfache Sachbearbeiterin war sie doch viel zu gut und würde sich nur ausnutzen lassen. Was aber weder die Eltern noch ihre Freundinnen ahnten, war, dass sie die Privatsekretärin für den Inhaber eines der größten Modeunternehmen in Paris war. Da sie Einblick in die streng vertraulichen Interna besaß, hatte sie eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben müssen und so erzählte sie nur, dass sie als Sachbearbeiterin in einer Firma arbeitete, die mit Mode zu tun hatte. Was genau sie da tat, darüber schwieg sie sich aus. 

 

Zugleich war sie auf der Arbeit ziemlich eingespannt, vor allem kurz nach der Frühlingskollektion, die erst wenige Wochen zuvor der Öffentlichkeit präsentiert worden war. Nun kamen ständig neue Interviewanfragen herein und Persönlichkeiten von Rang und Namen wollten dem Inhaber zu seiner bahnbrechenden Kollektion gratulieren. So kam sie spät nach Hause und dort warteten nur die Katzen auf sie, zwei kleine flauschige Fellnasen namens Belle und Flo. Sie hatte aber ihre Freundinnen, mit denen sie sich abwechselnd in unregelmäßigen Abständen treffen konnte. Solch einen ausgiebigen Bummel mit allen dreien kam aber selten vor. 

 

Nach dem würzig guten Mittagessen spazierten sie zurück auf die Champs-Elysees und von dort weiter zum Arc de Triomphe. Schon von Weitem sah man den imposanten Bau. Anouk legte wie üblich eine Rose auf das Grab des unbekannten Soldaten. Sie hatte nie erzählt, warum sie das tat und taktvoll hatten die Freundinnen auch nicht gefragt. 

 

Normalerweise wollten sie noch zum Eiffelturm laufen, aber Pauline kam auf die Idee, endlich mal wieder ins Kino zu gehen und danach noch in eine Bar auf ein Glas Wein und ein paar Häppchen. Alle vier mochten das Le Grand Rex mit dem riesigen Kinosaal und den gemütlichen Sesseln, aber da es noch ein recht langer Weg war drehten sie um und gingen nun ohne weitere Umwege zum Kino. 

 

Eine Stunde später kamen sie an dem alten Kino an und stellten erfreut fest, dass in zehn Minuten eine Vorstellung beginnen würde, die sie alle interessierte. Es ging um das Leben von Coco Chanel, mit der bezaubernden Audrey Tautou als Gabriele Chanel. Sie zahlten und liefen die alten Treppen hinauf in den Kinosaal. Die roten samtbezogenen Kinosessel waren urgemütlich und Claire fläzte sich so richtig schön hinein. Gespannt warteten sie darauf, dass die Vorstellung beginnen würde. Es dauerte auch nicht lange, da war ein Rauschen zu hören und der Vorhang bewegte sich zur Seite.

 

„Guten Morgen, Mademoiselle, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen? Was darf ich Ihnen heute zum Frühstück servieren?“ 

 

Claire schreckte aus ihren Träumen auf. Das war die Stimme von Claudine, ihres Kindermädchens. Und beinahe das einzige Wesen, dass sie den ganzen Tag zu Gesicht bekam. Ihre Eltern waren sehr reich und hatten äußerst angesehene Positionen inne. Daher hatten sie Angst, dass ihrem kleinen Mädchen etwas zustoßen könnte. Aus diesem Grund wurde Claire von Anfang an zu Hause unterrichtet und war auch sonst sehr behütet aufgewachsen. Abgeschottet von der Welt hatte sie keine Freundinnen, so wie in ihrem Traum. Bedauerlicherweise hatte sie auch keine Geschwister.

 

Einen Tag mit einem Bummel durch Paris zu verbringen war absolut unmöglich und daher noch nie vorgekommen. In all den zurückliegenden 16 Jahren nicht, obwohl sie inmitten dieser schönen Stadt lebte. In den Augen der Eltern waren solche Unternehmungen wie ein Spaziergang oder Schaufensterbummel nur eine weitere Möglichkeit, dass ihre Tochter entführt werden oder sonstiges Unheil passieren konnte. Wie toll muss es sein, einen Schaufensterbummel unternehmen zu können, ins Kino zu gehen wann immer man wollte und sich einen netten Nachmittag mit Freunden zu machen. Alles was sie von der Stadt glaubte zu kennen, wusste sie aus Erzählungen der Eltern, der Kindermädchen die sie im Laufe ihres Lebens hatte und der anderen Verwandten, die sich munter durch die Stadt bewegen konnten und die Claire daher heimlich beneidete. Mit ihnen zusammen Paris zu erkunden wurde ihr von den Eltern jedoch niemals gestattet. Und natürlich hatte sie viel im Internet über die Stadt gelesen. Einen richtigen Spaziergang durch die Metropole an der Seine konnte das alles aber nicht ersetzen.

 

Claire sank zurück aufs Kissen und dachte an ihren Traum, der so abrupt geendet hatte. Oh, wie schön wäre es, ein ganz normales Leben führen zu können, arbeiten zu gehen und vor allem Freundinnen zu haben. Die Eltern würden es ihr nie erlauben. Seufzend bestellte sie Kaffee und Croissants und kletterte umständlich und in Gedanken an den zurückliegenden Traum aus dem Bett, um in einen Tag zu starten, der genauso werden würde, wie jeder zurückliegenden Tag in den letzten 16 Jahren.

 

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