Von Eva Fischer

Der See schimmert blau in der herbstlichen Mittagssonne. Der Uferweg ist umsäumt mit Schatten spendenden Platanen. Ich habe es eilig, will das Schiff noch bekommen. Ein Mann nähert sich mir. Ich kenne ihn nicht. Kurz flackert sein diabolisches Grinsen auf. Schon ist er wieder verschwunden, aber ich spüre einen Stich in meiner Brust. Ich gehe weiter. Da ist das Schiff. Geschafft! Ich steige hinauf zum Oberdeck, will die schöne bergige Aussicht genießen. Doch die Kräfte verlassen mich. Ich sinke zu Boden und spüre, wie das Leben aus meinen Adern sickert und die Dunkelheit mich umhüllt.

Immer wieder habe ich diesen Traum und wache schweißgebadet auf. Das Bett neben mir ist leer. Schon lange. Ich weiß, ich werde bald sterben müssen, denn ich bin jetzt sechzig. 

Ich koche mir einen Lindenblütentee und steige hinab in den Keller. Dort befindet sich mein Fitnessstudio.  Ich schalte den Plattenspieler an. Am liebsten höre ich Wiener Walzer. Die Musik versetzt mich in einen Rausch. Während ich meine Turnübungen mache, entspanne ich mich langsam. 

*

Geboren wurde ich am 24. Dezember 1959. Ich war ein hübsches Mädchen mit blauen Augen und lockigem Haar. Mein Vater nannte mich immer seine Prinzessin. 

Als ich sechs Jahre alt war, durfte ich das erste Mal mit meiner älteren Schwester ins Kino. Wir sahen einen Film über eine Prinzessin, in die sich ein Kaiser verliebt hat, der sie dann auch zur Frau nahm. 

Dennoch war es kein fröhlicher Film, denn die Prinzessin musste ihr Elternhaus verlassen. Die Schwiegermutter beäugte sie misstrauisch und machte der Prinzessin Vorschriften. Auf die Dauer sah die unglückliche Prinzessin, die nun mittlerweile selbst Kaiserin war, nur eine Möglichkeit, der Enge zu entfliehen. Sie bereiste viele Länder: Ungarn, Griechenland, Frankreich, England.

In der schönen und freiheitsliebenden Sissi hatte ich meine Seelenverwandte gefunden. Von nun an wollte ich nur noch mit Sissi angeredet werden, obwohl ich Susanne heiße. Mein Vater ging schmunzelnd auf meinen Wunsch ein, brachte mir auch das Walzertanzen bei. Immer wieder sah ich vor meinen Augen, wie Franz und seine geliebte Prinzessin im gemeinsamen Takt verschmolzen. 

In der Schule erntete ich jedoch mit meinem Sissi-Spleen Spott und Häme, so dass ich ihn bald wieder aufgab.

Mit neunzehn hatte ich mein Abitur in der Tasche und wollte Kunstgeschichte und Französisch studieren. An der Uni wurde ein Ball organisiert, damit sich die Studenten miteinander bekannt machen konnten. Das klappte bei mir auf Anhieb. Ich lernte Leo kennen. Er war acht Jahre älter als ich und hatte gerade sein Jurastudium beendet. Er sollte mal die Anwaltskanzlei seines Vaters übernehmen. Seine Eltern waren von mir nicht begeistert. Was hatte ich unerfahrenes Küken schon zu bieten? Meine Studienfächer wurden ebenfalls nicht ernst genommen. Für welchen Beruf sollte das gut sein? Eine gestandene Juristin hätte ihnen besser gefallen. Aber dann wurde ich schwanger und sie mussten zähneknirschend einer Hochzeit zustimmen. 

Es folgte keine glückliche Zeit, auch wenn mich Leo zweifellos liebte. Ich langweilte mich mit meiner kleinen Tochter Lissi zu Hause. Die Sonntage – unsere einzigen freien Tage – verbrachten wir mit den Schwiegereltern, die uns zum Mittagessen einluden. Susanne ist keine gute Köchin, lag unausgesprochen im Raum. Leo und sein Vater zogen sich nach dem Essen zu Fachgesprächen zurück. Ich spürte, wie mir jedes Essen immer mehr zuwider wurde. Sagen wir, wie es ist. Ich kotzte alles wieder aus. Schließlich fand ich auch mein Leben zum Kotzen. Ich wurde immer dünner und antriebsloser. Leo schaute mich besorgt an. „Du solltest zurück an die Uni unter Menschen“, riet er mir. „Für Lissi finden wir eine Kinderfrau. Auch meine Mutter würde sich um sie kümmern.“

Für den ersten Teil der Botschaft fiel ich ihm dankbar um den Hals. Den letzten Satz musste ich wohl als Kröte schlucken.

Es kamen bessere Zeiten. Für Kunstgeschichte wurden zahlreiche Exkursionen angeboten, die ich gerne wahrnahm. So lernte ich die Kathedralen und Museen von Frankreich und England kennen und natürlich Griechenland mit seinem unerschöpflichen, kunstgeschichtlichen Reichtum.

Leo sah ich nur noch selten. Er war mittlerweile in die CSU eingetreten und schaffte es als Abgeordneter in den Bonner Bundestag. Als Münchnerin hatte ich jedoch nicht vor, in eine so unbedeutende und langweilige Kleinstadt zu ziehen. Jeder lebte in seiner eigenen Welt.  Das war keine große Umstellung, denn Leo war schon immer mehr mit seiner Arbeit verheiratet als mit mir und ich reiste mittlerweile viel. Natürlich erboste das meine Schwiegermutter und sie hetzte über mich bei ihrem Sohn, aber sie fand kein Gehör. Ich blieb für Leo seine junge, schöne Prinzessin, von der er stets ein Foto bei sich trug, das nicht alterte.

Auch der Kunstprof fand an mir Gefallen. Er nahm mich mit auf seine Exkursionen während der Semesterferien. Seine Frau kränkele und wolle nicht mehr verreisen, sagte er. Wir erlebten wunderbare Abende am Meer, wo wir uns stundenlang über Architektur und Bildhauerei unterhielten. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart und bewunderte seine sprachgewaltigen Ausführungen, aber auch seine zartgliedrigen Hände, die er beim Reden ständig im Einsatz hatte, seine dunklen Augen, die Begeisterung ausstrahlten und auch mich wärmten, ja auch seine sinnlichen Lippen entgingen mir nicht. 

Zu spät, zu spät sind wir begegnet

Uns auf des Lebens Dornenpfad;

Zu weit schon hat uns fortgetragen

Der Zeiten unaufhaltsam Rad.

Zu spät hat deiner tiefen Augen

Magnet’scher Blick auf mich geschaut,

Selbst unter diesen warmen Strahlen

Hat’s starre Herz nicht mehr getaut.*

 

*

2009 feierte ich meinen fünfzigsten Geburtstag. Ein kleiner Umtrunk am Morgen, bevor am Abend das Christkind kam. Ich war es gewohnt, dass ich gegen seinen Glanz nicht ankam. Es blieb immer nur ein halber Geburtstag, der mich dafür hoffentlich nicht so schnell altern ließ. Nach „Heilige Drei Könige“ fuhren Lissi und Leo zurück nach Berlin in ihre gemeinsame Kanzlei, während ich mich in eine Pension am Starnberger See einmietete. Ich liebte den Schnee und die Stille. Oft saß ich an der Kapelle, die an der Stelle errichtet worden ist, an der Ludwig II. ertrank und schaute auf den See. Ich dachte über das Leben nach, besonders auf das, was ihm möglicherweise folgt. Ich begann, Tagebuch zu schreiben. Es wurde mein ständiger Begleiter, dem ich alles anvertrauen konnte, wie diese Zeilen hier auch.

Während einer Wienreise hatte ich „Das poetische Tagebuch“ der Kaiserin Elisabeth entdeckt.  Ihre Gedichte waren ein Echo meiner eigenen Gefühle und Gedanken.

Schon fünfzig Jahre such‘ ich sie

Die wunderbare Pflanze.

Ich bände sie zum Kranze,

Doch ach! Ich finde sie ja nie!

Nachdem ich fünfzig Jahr gesucht,

Bin ich nun klug geworden

Sie wächst an keinen Orten,

Auf keinem Berg, in keiner Schlucht.

Sie wächst im Märchenreich nur weit!*

Ich habe am gleichen Tag Geburtstag wie Elisabeth. Mein Leben verlief ähnlich einsam wie ihres. Auch ich hatte einen geliebten Mann, der mir mit der Zeit immer fremder wurde. Ich reise gerne, achte sehr auf mein Äußeres, auf meine schlanke Figur, auf meine prachtvollen Haare. Das war doch kein Zufall!

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, was meine kindliche Seele bereits gespürt hatte. 

Ich bin eine Wiedergeburt der Kaiserin Elisabeth! 

Daraus folgt, wenn ich schon ein Leben davor gehabt habe, dann werde ich auch ein Leben danach haben. Der Tod ist demnach nur eine Tür, durch die ich gehen muss und hat somit seinen Schrecken und seine Endgültigkeit verloren. Er bedeutet nicht mehr den Verfall und den Verlust aller menschlichen Schönheit.

Luigi ist der einzige Mensch, der mich versteht. Ich traf ihn auf einer Bank mit Blick auf den Starnberger See. Wir schauten beide in die Untiefen des Gewässers, das auch unsere Gedanken umspülte. 

„Die Menschen lassen sich von der Oberfläche blenden. Sie hecheln ihrem täglichen Broterwerb nach, ihren bürgerlichen Ehevorstellungen und erfahren nie, was wirkliche Liebe ist. Sie ist mehr als nur ein Augenblick des körperlichen Glücks. Wahre Liebe kennt keine Begrenzung durch zweierlei Geschlecht oder durch die Zeit. Sie ist die Verschmelzung verwandter Seelen zu einem Diamanten. Nur in der Musik finden wir eine Ahnung von ihrer Schönheit, ihrer Harmonie, aber auch von dem ständigen Kampf dunkler Mächte, die danach trachten, unseren Blick zu verschleiern.“

Ich lauschte Luigis Worten und folgte ihm in sein Haus am See. Er schenkte mir ein Glas Rotwein ein. Gemeinsam hörten wir schweigend Wagneropern. Ich legte meinen Kopf in seinen Schoß. Er streichelte zärtlich über meine Haare und meinen Mund. Es war mir, als ob wir uns schon immer gekannt hätten. Von nun an suchte ich ihn auf, wann immer ich in Starnberg weilte. 

Er ist acht Jahre jünger als ich, von großer Gestalt. Dunkle Locken umrahmen sein markantes Gesicht. Seine Eltern besitzen eine Maschinenfabrik. Im Gegensatz zu ihm sähen sie es gerne, wenn er in ihre Fußstapfen träte. 

„Ach, Susanne, wenn es dich nicht gäbe! Glaube mir, ich hätte schon längst meine Ruhe in diesem tiefen See gefunden.“

 

  

*aus: Kaiserin Elisabeth: Das poetische Tagebuch