Von Bernd Kleber

Lange war meine Mama schon in der Klinik und quälte sich. Es war schrecklich, das mit anzusehen. Hilflos stand ich am Krankenbett und wollte, dass man mehr für sie tat. Dass man sie pflegte und umsorgte, dass alles Notwendige in die Wege geleitet würde, sie zu heilen.

Meine Mutter hatte eine Patientenverfügung hinterlegt und dadurch wurden schreckliche Entscheidungen getroffen. Als ich mit meinen beiden Schwestern im Zimmer der Oberärztin saß und die Frage im Raum stand, beide Beine unter dem Knie zu entfernen oder nicht, war ich sofort dafür. Sie hatte dadurch eine kleine Überlebenschance. Eine Sepsis vergiftete ihren Körper, von den Zehen mehr und mehr aufwärts wandernd. Nichts half mehr. Dazu kam ein resistenter Keim. Meine Schwestern waren gegen die Operation, das noch einzig verfügbare Mittel.

„Das ist nicht Muttis Wunsch, sie will Abschied nehmen.“

Ich sah beide entsetzt an und fragte, ob sie unsere Mutter eben zum Tode verurteilt hatten. Und erntete entsetztere Blicke. Die Ärztin mahnte mich zur Sachlichkeit und berief sich auf diese Verfügung. Bürokratie!

„Frau Weber hat doch ein erfülltes Leben gelebt mit ihren vierundachtzig. Drei Kinder erzogen. Sie wirken alle drei auf mich sehr erfolgreich im Leben stehend. Der Wunsch ihrer Mutter ist in so einem Fall, wie er jetzt eingetreten ist, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchzuführen, die geringe Erfolgschancen erwarten lassen. Sie wünscht nur schmerzlindernde Medikamente, mehr nicht. Das sollten wir alle akzeptieren. Und die Gelegenheit zu einem letzten Abschied nutzen.“ Was redete die denn, die Frau war ein Android. Ich verließ den Raum.

Weinend saß ich am Bett meiner Mutti. Ich redete auf sie ein, sie solle in die Amputation einstimmen, dann könne sie doch ihren Urenkel aufwachsen sehen, wo sie doch ohnehin schon im Rollstuhl säße. Meine Mutter schüttelte röchelnd den Kopf.

Bewusst setzte ich meine Schritte aus dem Zimmer, der Station, dem Flur ins Freie. Meine Beine waren weich und kraftlos, der Boden unter mir wie eine frische heiße Teerschicht. Bevor ich verschlungen werden würde, setzte ich mich auf eine Bank. Am anderen Ende der schönen weißen Holzbank saß eine alte Dame. Sie lächelte vor sich hin. Die Vögel zwitscherten. Der Wind riss an den Bäumen. Hier draußen ging das Leben ungerührt weiter, niemand scherte sich darum, wie sehr meine Mutti litt.

„Da bist du ja endlich“, grüßte die Dame. Spontan blickte ich mich kurz um und erwiderte dann: „Ja, hallo, guten Tag.“

Sie lächelte. Ich erkundigte mich: „Geht es Ihnen gut?“

„Ja, danke“, erklang ihre warme Stimme.

Ich begann mit zitternder Stimme von meiner Mutti zu berichten, die drei Etagen höher im Haus hinter mir im Sterben lag. Immer wieder musste ich Pausen machen.

„Ja, so ist das!“

„Das Leben?“, fragte ich.

„Ja…“

Ich sah in blaue Augen, die klar wie ruhendes Meer strahlten. Ich fühlte mich verstanden und irgendwie geborgen. Ich rückte einige Zentimeter näher an die Dame auf der Bank. Am liebsten hätte ich mich umarmen lassen.

„Sind Sie hier im Krankenhaus Patientin?“

„Ja…“, lächelte sie mich wieder an.

„Ich finde diese Abschiede-für-immer schrecklich. Ich bin nicht gut darin, loszulassen. Aber ich weiß, dass alles endet und man muss einfach auch weiterdenken und leben.“

„Ja“, nun nickte sie mir zu, ihre Augen blitzten wie bei verschworenen Kindern auf Entdeckungstour.

„Ich habe zwei Schwestern, die für meine Mutti entschieden haben als hätten sie kein Herz. Die Ärztin unterstützte sie und die drei sprachen von Respekt und Liebe und Loslassen. Meinen Sie, dass die drei richtig lagen mit ihrer Entscheidung?“

„Ja…“, sie ergriff meine Hand. Wärme durchströmte mich. Die Haut der Dame war glatt und trocken. Ihr Griff war sanft aber bestimmt. Mit ihrer anderen Hand streichelte sie nun über meinen Handrücken. Mich erfasste Glück. Eine Woge von Kraft und Zufriedenheit rollte durch meine Brust zum Bauch. Ich atmete tief ein und verabschiedete mich. Sie winkte mir zu, als ich mich noch einmal umdrehte.

Zuhause angekommen, dachte ich nach. Wie konnte ich in Zukunft ohne die klugen Ratschläge meiner Mutter durchs Leben kommen? Immer hatte sie ein direktes Wort für mich, ohne falsche Rücksicht, ohne Abwägung in Emotionen. Wenn meine Mutter riet, dann pragmatisch und vorurteilsfrei. Es half immer. Ich bewunderte sie dafür. Sie war meine beste Freundin. Und was sie alles erlebt hatte. War in der Nazizeit aufgewachsen. Ihr Vater war als Widerständler im Zuchthaus Brandenburg gestorben. Sie selbst nach dem Krieg politisch aktiv, für eine neue, bessere, gerechte Zeit. Enttäuscht vom System, war sie dann auch verhaftet worden, kam wieder frei, wurde eine mutige emanzipierte Frau. Sie war die einzige Direktorin in der Firma, in der sie arbeitete und das nun ohne Parteibuch. Und sie erzog uns drei Geschwister zu selbstständig denkenden Menschen. Nun lag sie da, hilflos wie ein neugeborenes Kind.

Wir drei Geschwister lösten uns am Bett meiner Mutter ab, rund um die Uhr saß jemand von uns dort und redete mit ihr. Ich hielt immer ihre Hand, sie griff fest nach meiner. Ich staunte über ihre Kraft. Der Kopf war weit nach hinten geneigt, sie atmete schwer. Die Augen stumpf, der leblose Blick ins Leere geheftet.

An diesem bestimmten Abend hielt sie meine Hand besonders fest. Ich hatte das Gefühl, sie ertrinkt. Ihr Atem gurgelte wie ein verstopfter Straßengully. Es schauderte mich. Auf meine Frage bei der diensthabenden Schwester, warum denn niemand absauge, erklärte man mir, dass meine Mutter im Sterben läge und Morphine erhalten würde. Man könne nichts mehr tun. Die Geräte waren zur Beobachtung der letzten Stunden der Patientin nun auf stumm geschaltet. In dem Raum war nur ihr und mein Atem zu hören.

So saß ich da und hoffte, dass bald meine Schwester käme, mich abzulösen. In der Nacht zuvor hatte ich eine Nachricht meiner jüngsten Schwester erhalten: „Sie kämpft…“

Nun kämpfte sie immer noch. Ich sprach mit meiner Mutter, obwohl keine Reaktion kam. Nur der Druck ihrer Hand ließ nicht nach.

„Mutti, ich liebe Dich so sehr und werde Dich unendlich vermissen. Ich danke Dir wie verrückt für alles, was Du für uns getan hast. Aber nun musst Du loslassen und gehen. Quäle Dich nicht so sehr. Oma und Papa warten schon auf Dich…“

Ich weiß nicht, was ich noch alles von mir gab und wie rührselig das geklungen hatte, wie sehr es mich an überspannte Hollywood-Streifen im Nachhinein erinnerte, aber ich sprach diese Dinge aus, allein mit meiner Mutter, begleitet von unendlich vielen Erinnerungen. Und vielleicht machen das alle Menschen in ähnlicher Situation?

Schließlich ging die Zimmertür auf. Meine Schwester, die Ablösung! Ein Glück, ich kann gehen. Ich drehte mich um, die Hand meiner Mutter fest im Griff. Es war die Diensthabende. Sie ging zum Monitor und schaltete ihn ab. Zog einige Drähte und löste am Körper meiner Mutter Klemmen. Reine Mechanik im Handeln. Routine!

Ich starrte sie an. „Was ist denn nun los? Warum schalten Sie den Monitor aus?“

„Ihre Mutter ist vor fünf Minuten verstorben. Mein Beileid. Mir scheint, sie hatte schon seit letzter Nacht auf Sie gewartet.“

Ich starrte mit Entsetzen auf die Geräte, die Schwester, die den Raum wieder verließ. Dann blickte ich auf meine Mutter. Da lag sie, hielt immer noch meine Hand und ich bemerkte die Stille im Zimmer. Kein Röcheln. Kein Gurgeln. Nur Ruhe!

Meine Tränen liefen unangemeldet über meine Wangen. Fast rücksichtsvoll flossen sie leise, die Atmosphäre nicht störend, in zwei Rinnsalen hinab. Ich ließ Mutters Hand los und legte sie auf ihre Brust, ihre andere daneben. So schöne Hände, die mich manches Mal gestreichelt hatten. Macht man das so? Dann drückte ich sanft ihre Augen zu.

Ich setzte mich wieder, blickte sie an und beherrschte mich, sie nicht wachrütteln zu wollen. Mir war klar, dass ich nie wieder ihre Stimme hören würde. Nie wieder Vieles nicht.

Meine Schwester kam und öffnete ein Fenster, sagte etwas von Seele freilassen, was mir merkwürdig erschien, weil ich es noch nie gehört hatte. Sie nahm mich in die Arme und drückte mich fest. Wie stark sie war! Ich schluchzte wie ein Kind in dieser Umarmung.

Nach einigen Minuten, die wir da so an uns festhielten, besprachen wir, wie es weiterging, und verließen betreten, ja fast peinlich berührt, das Zimmer. Wir stahlen uns irgendwie fort aus diesem Raum voll kaltem würgenden Schmerz. Die Pflegerin fragte mit tonlosem Ausdruck in der Stimme, ob Frau Weber noch liegen bleiben solle, ob noch jemand zum Abschied käme, oder ob sie fortgeräumt werden könne. Forträumen, abholen. Mich schüttelte es. Meine Schwester meinte: „Geh´ schon an die Luft, ich kläre alles.“

Vor dem Haus angekommen, setzte ich mich zu der Dame, die dort schon wartete. Sie lächelte mich an.

„Meine Mutti ist gegangen. Es war eine unsagbar traurige Situation. Ich habe Angst und mir ist schlecht und kalt.“

Die Dame rutschte an mich heran und ergriff wieder meine Hand. Ihre Ultramarin-Augen strahlten Trost in mein Hirn. Sie hielt meine Hand, ihre Handfläche streichelte mich.

„Ich benehme mich albern, wie ein kleiner Junge. Dabei werde ich bald 55.“

„Ja.“ Ihr Lächeln gab mir Luft zum Atmen. Ich sog meine Lunge ruckartig voll. Einem Hickauf gleich.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier so volljammere. Aber ich danke Ihnen für Ihr Zuhören und Ihre Güte. Bekommen Sie auch Besuch von Verwandten?“

„Ja“, sie streichelte mir nun über meinen Rücken.

Da kam meine Schwester: „Guten Tag, Frau Schacknies!“

Zu mir gewandt, erklärte sie, dass sie unsere Schwester erreicht hatte und der Pflegerin alles freigegeben hatte.

„Du kennst diese Frau?“, sah ich sie irritiert an, das Thema wechselnd.

„Ja, das ist Frau Schacknies, die hier jeden Tag sitzt. Sie spricht mit niemanden. Sie erkennt auch niemanden. Eine Schwester der Geriatrie hatte sie mir an einem Tag vorgestellt. Und ich setzte mich dann auch immer zu ihr nach dem Besuch bei Mutti.“

Ich sah die Frau an, die so viel Verständnis mit mir hatte und die mir so viel geholfen hatte, wie ein Engel und dachte darüber nach, was sie alles gesagt hatte.

 

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