Von Ellen Rung

Man muss etwas abschließen, um neu anfangen zu können. So sagt man. Doch dieser Tag begann, noch bevor die Nacht der Dämmerung gewichen war. Nachdem Konrad sich stundenlang hin und her gewälzt hatte, war der Schlaf gekommen und mit dem Schlaf der Albtraum, den er am meisten fürchtete. In dem Moment, in dem die Gefahr am größten war, schreckte er auf. Er brauchte eine Weile, um in der Realität anzukommen. Benommen drückte er auf den Lichtschalter und setzte sich auf. Das feuchte Bettlaken klebte an seinen Beinen. Um keinen Preis wollte er wieder einschlafen. Also stand er auf.

Den Tagesrucksack mit der Wechselkleidung, ein paar belegte Brote, eine Flasche Bier und das Fernglas hatte er schon am Vorabend gerichtet. Auch das Gewehr lag auf dem Küchentisch bereit.

Er kochte Tee, den er in eine Thermoskanne füllte. Als er losfuhr, war der Mond immer noch hinter einer dichten Wolkendecke verborgen. Er würde warten müssen, bis  das Tageslicht die Dunkelheit durchbrach.

Langsam fuhr er durch die kleinen Dörfer, in denen um diese Zeit das Leben noch ruhte. Nur einmal kläffte ein Hund hinter einer Hoftür. Die Straße zwischen den Orten war links und rechts mit Mais- und Weizenfeldern gesäumt. Drei Grad Celsius zeigte der Thermometer. Der Winter blieb hartnäckig.

Der Traum erschwerte ihm immer noch das Atmen. Konrad öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Der kalte Luftzug beruhigte ein wenig seine pulsierenden Schläfen und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Endlich begann der Wald. Er kannte das Revier genau und wusste, wo er den Wagen abstellen konnte. Der Rucksack war nicht sehr schwer. Er nahm das Gewehr und ging ein paar Meter bis zu einem Bach, der ihm die Richtung vorgab. Trotz der frühen Stunde hörte er schon den Balzgesang der Singdrosseln.

Als sich sein Fuß in dornigem Gestrüpp verfing, stolperte er. Sein Kinn schlug hart auf einen Stein. Mit dem Ärmel seiner Jacke versuchte er das Blut zu stillen. Etwas benommen setzte er sich auf und rang um sein Gleichgewicht. Ahnungen von Scheitern und Verlust waberten in seinen Eingeweiden, dabei hatte er sich auf diesen Tag gefreut, ihm sogar entgegengefiebert. Konrad verstand nicht, in was er sich da verfing. Angespannt prüfte er das Gewehr. Es war in Ordnung. Langsam schob er sich auf dem harten Waldboden voran. Plötzlich hörte er das Grunzen und Quieken von Wildschweinen. Er erspähte die Gruppe in unmittelbarer Nähe. Vorsichtig pirschte er sich an ihr vorbei. Die Tiere beachteten ihn gar nicht. Schnüffelnd suchten sie den Boden nach Eicheln ab.

Endlich erreichte er den Hochsitz, der am Rand einer Wildwiese stand. Hier wollte er warten, bis es dämmerte. Eine Weile passierte nichts. Ein paar Bussarde flogen über ihn hinweg. Mit dem Glas entdeckte er Rehe unter einer Eiche. Rechts davon lag der Weiher, über dem noch ein dichtes Gespinst aus Nebelfäden hing. Der Wind pustete ihm kühl ins Gesicht. Das Geschnatter von Stockenten drang bis zu ihm herüber. Er stellte das Glas scharf und sah auf die graue Oberfläche des Tümpels. Eine Szene tauchte in ihm auf und spiegelte sich auf ihr. Ein Kind in der Badewanne. Ein kleiner Junge mit nassen Haaren. Vielleicht fünf Jahre alt. Sein Vater über ihn gebeugt mit dem Duschkopf in der Hand. Der Vater sagt etwas, gibt eine Anweisung. Der Junge taucht mit dem Kopf unter Wasser. Als er sich wieder aufsetzt, donnert der Zorn auf ihn herab. Mit flacher Hand schlägt der Vater auf ihn ein. Immer wieder, es hörte nicht auf. Das Kind ist starr vor Schreck. Es versteht nicht.

 

Konrad schüttelte sich heftig, so als könne er diesen Schrecken wie Wassertropfen auf einer Regenjacke abperlen lassen. Sein Mund war trocken. Er dachte an das Bier und griff in den Rucksack. Mit der Flasche in der Hand kletterte er von dem Hochsitz, lief auf den Weiher zu und setzte sich an einer flachen Stelle ins Gras. Um sich abzulenken, horchte er aufmerksam auf die Geräusche, die ihn umgaben.

Nach etwa zehn Minuten hörte er den kraftvollen Schrei eines Hirschs. Andere Hirsche fielen ein. Konrad folgte einem Weg, der links und rechts mit Brombeersträuchern und Buchen bewachsen war. Plötzlich ein Knacken von links. Ein Tier näherte sich. Der Puls des Mannes jagte in die Höhe, wurde aber durch die Enttäuschung ausgebremst, als er mit dem Fernglas den Hirsch erspähte: zu jung, zu schwach für ihn. Er hockte sich auf einen umgestürzten Baum, als er vertraute Geräusche vernahm, Geweihe, die aufeinander prallten. Mit dem Fernglas spähte er durch das Astgewirr. Gespannt beobachtete er den Kampf auf Leben und Tod. Geschlagen ergriff der Verlierer die Flucht, während der Sieger stolz auf Konrad zuschritt. Doch auch jetzt war Konrad enttäuscht. Das war nicht der, auf den er wartete, kein erwachsener, kapitaler Hirsch, dem er seine Kugeln mit Freude in den Leib jagen konnte. Trotzdem hatte der Kampf ihn erregt. Schauer durchströmten ihn. Auf seinen Armen stellten sich die feinen Härchen in die Höhe. Er blieb sitzen und spürte diesem Gefühl noch ein wenig nach.

Plötzlich ein Schuss. Seine Muskeln wurden hart. Konrad durfte sich nicht erwischen lassen. Der Pirschführer war sicher mit ein paar Jagdtouristen unterwegs. Sollte er das Ganze abbrechen und nach Hause fahren?

Konrad konnte sich nicht entscheiden. Sein leerer Kopf und sein kraftloser Körper erlaubten ihm nicht, aufzustehen. Er wartete, ohne zu wissen, worauf.

In seine Apathie drängte sich ein weiteres Bild: Die Mutter sitzt am Tisch, der Vater gegenüber. Das Kind geht zur Mutter, will ihr etwas zeigen. dreht sich um und zieht die Hose herunter. Der Hintern des Kindes ist von einem großflächigen Bluterguss tiefblau, fast schwarz gefärbt. Die Mutter blickt zum Vater. Sie lacht.

Um sich abzulenken, holte Konrad das Gewehr aus dem Futteral, prüfte die drei Patronen und klappte das Zweibein aus. Durch das Pirschglas erkannte er ein Rudel ganz in der Nähe. Der Platzhirsch war damit beschäftigt Konkurrenten zu vertreiben. Die vertraute Erregung durchströmte ihn. Durch das Heidekraut schob er sich vorsichtig an die Gruppe heran. Im Zielfernrohr nahm er den Hirsch ins Visier. Plötzlich ein Knacken hinter ihm, dann ein Klicken. Eine Waffe wurde entsichert. Konrad blieb regungslos liegen.

„Steh auf du Arschloch, hab ich dich endlich erwischt“, schrie eine kräftige Männerstimme hinter ihm. „Steh endlich auf! Du hast hier nichts zu suchen. Oder hast du einen Jagdschein?“. In das Rudel vor ihm kam Bewegung. Hinter Konrad sammelten sich weitere Personen, wahrscheinlich die Touristen. „Er hat keine Berechtigung hier zu jagen. Trotzdem finden wir immer wieder tote Tiere, die er geschossen und liegen gelassen hat“, erklärte der Jagdleiter der Touristengruppe sein Verhalten. Seine Stimme schallte immer höher und schriller vor Zorn. Konrad drückte ab. Der Knall gab ihm Kraft. Der Hirsch ging ein paar Schritte, taumelte und fiel. Unmittelbar darauf spürte Konrad einen stechenden Schmerz im Kopf, Blut rann über seine Schläfen. Der Pirschführer hatte ihn mit seinem Gewehrkolben niedergestreckt. Konrad lag gekrümmt am Boden. Nebel vor den Augen. Er sieht den Vater. Der Vater schlägt mit der flachen Hand. Er begreift jetzt. Er hätte nicht mehr untertauchen dürfen mit seinen gewaschenen Haaren. Die Mutter lacht, lacht schallend.

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