Von Michael Kothe

(Ein satirisches Nachgrübeln über den Mainstream)

 

»Das Wort sagt man nicht!«

Die Abdrücke ihrer fünf Finger brannten noch immer auf meiner Haut. Nach ihrer verbalen Zurechtweisung hatte sie kurz und schmerzhaft unser Gespräch am Frühstückstisch abgebrochen. Und ich hatte gehofft, die Ära der antiautoritären Erziehung sei noch nicht gänzlich verflogen! Offenbar galt das nur für die Schule, wo wir uns den Lehrern gegenüber beinah alles erlauben durften. Zumindest so lange, bis sie unsere Eltern zum Gespräch einbestellten. Also musste ich aufpassen, das Mittelmaß nicht zu überschreiten, damit das Lamm am Lehrerpult nur anderen gegenüber aufbegehrte. Schule! Gleich würde ich aus Solidarität mit der Landesregierung und mit dem Kanzlerkandidaten, der sich von den Lockerungen Wählerstimmen versprach, den Mund-Nasen-Schutz abnehmen müssen und wäre den Blicken und dem Hohn aller ausgesetzt. Nun, nicht gerade aller, denn wer in der Klasse im Rap-Rhythmus redete und noch beide Elternteile hatte, kam auch des Öfteren mit einer glühenden Wange in den Unterricht. Bei dem gab es daheim gleichfalls keine antiautoritäre Erziehung. Nicht länger. Oder es hatte sie dort nie gegeben.

Irgendwie verstand ich sie. Seit ihrer Scheidung war sie wie ausgewechselt. Willkommen im Leben! Für mich war die Schule seit jeher ein Arbeitsplatz, an dem ich mich anzustrengen hatte. Nun musste sie ebenfalls arbeiten gehen, und das war mit Stress verbunden. Klar. Aber warum reagierte sie sich an mir ab? War ich ihr nicht fleißig, nicht gewissenhaft genug? Schwamm ich nicht auf der richtigen Wellenlänge? Dabei hatte ich ihr zuliebe den Regenbogen gemalt und ins Fenster meines Jugendzimmers geklebt, ihr zuliebe redete ich Elektroautos das Wort. Auch ich brachte Geld nach Hause. Gab Nachhilfe in Deutsch, Englisch, Mathe. Nie hatte ich wegen Friday for Future auch nur eine Schulstunde versäumt. Und das reichte nicht? Musste ich political Correctness über alles stellen? Damit sie Phrasen nachleben durfte, weil sie überfordert war und keine eigene Perspektive sah? Oder einfach, um nicht anzuecken. Wie lange würde ich mich dem beugen müssen, wann könnte ich ausziehen? So bald wohl nicht, vorher muss ich mein Abitur schaffen mit achtzehn. Oder mit neunzehn – aber das ist eine andere Geschichte.

Auf den Abend freute ich mich dennoch, im Überschwang kaufte ich luftgetrockneten Schinken fürs Abendbrot, den mochte sie so sehr. Sie hatte nämlich angerufen und mir erzählt, ihr Tag sei ruhig verlaufen, beinahe harmonisch. Beim Abendessen holten uns die Klischees aber unweigerlich wieder ein. Sie konnte es nicht lassen: »Hast du‘s gelesen? Die Stadtverwaltung hat zusammen mit den Verkehrsbetrieben beschlossen, das Wort ‚Schwarzfahrer‘ nicht mehr zu verwenden.«

»Jaja, die Sprachpolizei! Dann darfst du aber auch nicht mehr von Schwarzbrot und Weißbrot reden. Schwarzbrot matters, und Weißbrot ist ungesund. Und nicht mehr ‚gelbe Tonne‘ sagen, ‚gelber Sack‘ erst recht nicht. Denn das wäre nicht nur politisch inkorrekt, sondern auch sexistisch.«

Mein Schinkenbrot ließ ich liegen. Die neuen Abdrücke ihrer fünf Finger brannten auf meiner Wange noch lange, nachdem ich mich in meine Kissen gewühlt hatte.

 

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