Von Karl Kieser

Ich bin ein sanftmütiger Mensch. Nichts bringt mich so leicht aus der Fassung. Das hat entscheidende Vorteile für mein Seelenleben.
Leider gehört zu meiner inneren Haltung auch ein grandioses Phlegma, das mich trotz einiger vielversprechender Talente in meinen mittleren Jahren um mein Obdach gebracht hat. Aber das ist nur gut so.
Jetzt ist meine Welt die Freiheit der Straße. Gute Straßen. Die meisten glatt und asphaltiert. Mit ein bisschen Glück bringen sie mich an manchen Tagen hunderte Kilometer voran.
Der Reisedrang ist die große Konstante in meinem Leben. Lange hält es mich nicht an einem Ort. Eigentlich wäre es mir recht, wenn ich ständig unterwegs sein könnte. Ich bin auch schon viel herumgekommen in Kerneuropa. Man kennt mich. Alle, die mir freundlich gesonnen sind, nennen mich den Tippelphilosophen. Tippeln muss ich nur innerhalb der Städte und Ortschaften. Auf Landstraßen und Autobahnen warte ich auf eine Mitfahrgelegenheit.
Ja, nette Menschen gibt es immer noch. Und die müssen mich auch nicht umsonst mitnehmen. Sie bekommen dafür interessante Gespräche mit einem weitgereisten Tippelbruder. Wenn ein Gespräch gut läuft, dann offenbare ich ihnen auch meine eigene Philosophie von der flachen, gebenden Hand. Die hat so viele Aspekte und einleuchtende Argumente, dass meine Gastgeber oftmals aus dem Staunen nicht herauskommen.

Natürlich muss ich manchmal doch noch Überzeugungsarbeit leisten. Nicht jeder kann meine Philosophie auf Anhieb verstehen. Sie können sich ja nicht vorstellen, was für wunderliche Typen mich gelegentlich mitnehmen. Da war zum Beispiel René. Ich erinnere mich lebhaft an ihn, weil unsere Begegnung nicht so gut ausging.

Ich hatte schon ein paar Stunden an der Ausfahrt einer Autobahnraststätte gewartet, als endlich das riesige Straßenkreuzer-Cabrio neben mir hielt; stahlblau und mit viel Chrom glänzend. Der Typ am Steuer, schwarze Haare, schwarze Sonnenbrille, schwarzes Hemd, war mir schon bei seiner Ankunft aufgefallen. Nach seinem Tonfall musste er jetzt gehörig unter Druck stehen, als er mich anraunzte:
„He, du Penner. Du hast doch bestimmt die zwei Mädels gesehen, mit denen ich gekommen bin. Was für ein Auto hat sie mitgenommen?“
Und als ich, meinem Naturell gemäß, meine Antwort bedächtig abwog, fuhr er ungeduldig fort: „Jetzt rede endlich, oder brauchst du eine Extraeinladung?“

Natürlich hatte ich die beiden Schönheiten gesehen. Kein Mann hätte sie übersehen können, als der Typ sein Schlachtschiff mit quietschenden Reifen neben der Toilette gestoppt und mit schon halb geöffneter Hose im Sturmschritt verschwunden war.
Vielleicht hätten die zwei Damen das Auto gerne gekapert, aber trotz seiner Dringlichkeit hatte er vorsorglich den Schlüssel abgezogen. So war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als sich zu Fuß in die Büsche zu schlagen. Sie hatten sich ihre Handtäschchen geschnappt und waren eilig davongestöckelt.

Ich hatte meine Warterei eigentlich schon satt und die Aussicht, mich in den Polstern dieses Ami-Schlittens auszuruhen, war zu verführerisch. Außerdem wollte ich endlich weiter nach Süden vorankommen. Deshalb habe ich ihm die alternative Wahrheit verraten, die er doch auch unbedingt hören wollte.

„Ja, die zwei hatten es anscheinend sehr eilig. Konnten wohl nicht auf Sie warten. Ich finde es übrigens sehr ungerecht, wie schnell das bei den Mädels immer klappt. Ich dagegen ….“

Sonnenbrille platzte fast vor Ungeduld, als er mich lautstark unterbrach: „Jetzt laber nicht rum, du Arschloch. Was für ein Auto war das?“

Es ist mir ja unbegreiflich, wie man sich so echauffieren kann. Er war schon ganz rot im Gesicht. Das kann doch nicht gesund sein. Damit er mir nicht auch noch einen Herzinfarkt bekam, war eine schnelle Antwort nötig:

„Ich würde es Ihnen ja gerne zeigen, aber nachdem die zwei Schönen eingestiegen sind, war der Fahrer plötzlich in Eile und ist zügig abgebraust.“

Sonnenbrille hatte sich wütend den Lichtfilter aus dem Gesicht gerissen und mich hasserfüllt angestarrt. Er war dicht vor der Explosion. Hochgestemmt in seinem Sitz konnte er nur noch brüllen:

„Du dummer Hund sollst mir nur beschreiben … Los, einsteigen! Aber dalli!“

Sonnenbrille war offensichtlich am Ende seiner Geduld und wollte mich wohl als direkten Augenzeugen zur Identifizierung des Fluchtwagens neben sich haben. Zufrieden mit der Entwicklung wollte ich mich genüsslich in das Leder sinken lassen. Noch bevor mein Rücken zum vollen Kontakt mit dem bequemen Sitz kam, hatte er schon die Kupplung kommen lassen. Zu schnell, wie sich sofort zeigte, denn der schwere Wagen machte nur einen lustigen Hopser, der immerhin zum automatischen Schließen der Tür führte.

Die folgenden Äußerungen meines Fahrers möchte ich hier aus ästhetischen Gründen nicht wiedergeben. Es wurde auch kein bisschen besser, als das Orgeln des Anlassers zunächst nicht den gewünschten Erfolg brachte. Erst das infernalische Blöken des LKW-Typhons direkt hinter uns konnte ihn übertönen. Um ein Haar hätte uns allein der Schalldruck dieses hochseetauglichen Horns aus dem Weg gepustet.
Das anhaltende Dröhnen des Typhons muss wohl auch die mindestens sechs Zylinder unseres Motors aufgeweckt haben, denn Sonnenbrille preschte los. Das Schiff neigte sich bedenklich in die Federn, als wir in der geschwungenen Auffahrt auf die Autobahn rasten.

Ich hatte mich derweil interessiert umgesehen in dem Luxusgefährt. Mitten zwischen den protzigen Armaturen war noch Platz für ein blank poliertes Messingschild mit eingravierten, kunstvoll verschlungenen Buchstaben. Mit einiger Mühe konnte ich ‚René‘ entschlüsseln. Ich bin immer froh, wenn ich meine Gastgeber mit einem Namen verbinden kann.

Für meine Identifizierungsaufgabe war ich innerlich schon auf einen schwarzen SUV festgelegt. Daher war ich vorbereitet, als René brüllte: „Also, wo ist er?“

Ich bitte Sie, so naiv kann man doch nicht sein. Die Mädels hatten theoretisch einen Vorsprung von mehr als einer Minute. Wie konnte er da erwarten, sie nach wenigen Sekunden schon eingeholt zu haben? Aber ich tat ihm den Gefallen und zeigte auf den nächsten dunklen SUV.
Was dann begann, war eine wilde Jagd auf jeden dunklen Geländewagen. Die meiste Zeit fuhren wir auf der äußerst linken Spur. Aber Renè pflegte einen sehr virtuosen Fahrstil. Er überholte auch schon mal auf der falschen Seite und nutzte kreativ sogar die Standspur. Auf unserer wilden Fahrt lösten wir so manches Hupkonzert aus und so mancher Finger wurde an die Stirn getippt.
Während ich freundlich lächelnd nach allen Seiten grüßte, jagte René mit verbissenem Gesicht jeden dunklen SUV, der vor uns auftauchte.

Bei der hohen Geschwindigkeit war es ziemlich laut in dem offenen Wagen. Ich versuchte trotzdem, meinen Gastgeber angemessen zu unterhalten und erklärte ihm meine Philosophie von der offenen, flachen Hand.
Ich habe das schon so oft getan, dass die Sätze fix und fertig, dabei exzellent formuliert, in meinem Kopf bereitliegen. In den meisten Fällen ernte ich dabei ein Spektrum von nachsichtigem Unglauben bis zu verblüfftem Staunen.
René war, wie in vielen anderen Dingen, auch hier eine Ausnahme. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er mir gar nicht richtig zuhörte.

Nach nicht einmal einer Stunde war unsere Jagd zu Ende. René musste die beiden Schönheiten wohl endgültig abgeschrieben haben. Er konnte ja nicht wissen, dass er mit seiner Verfolgung von Beginn an chancenlos war. Er fuhr auf den nächsten Parkplatz und hielt den Wagen an. Ich war froh, dass er das Fazit meines Vortrages in relativer Stille vernehmen konnte:

„…und so kann ich mit Überzeugung sagen: mit der offenen, flachen Hand komme ich durchs ganze Land.“

Das ist immer der Moment, wo ich meinem Fahrer erwartungsvoll meine flache, offene Hand hinhalte. Und wieder verblüffte René mich mit seiner Antwort, die mir zeigte, dass er, selbst bei konzentriertem Fahren, trotzdem zuhören konnte.

„Es muss wohl eher heißen: mit der ausgestreckten hohlen Hand schnorre ich mich durchs ganze Land. Und jetzt raus hier, du Spinner!“
Bei diesen Worten gelang es ihm, meine flache Hand vollkommen zu ignorieren.

Ich war fassungslos, dass er meine ausgefeilte Rede mit den glasklaren Argumenten derart missverstehen konnte und muss ihn wohl ungläubig angestarrt haben. Und wieder verblüffte er mich, diesmal erneut durch seine Ungeduld. Denn schon einen Augenblick später war er behände aus seinem Schlachtschiff herausgesprungen, war nach einem kurzen Sprint neben der Beifahrertür wieder aufgetaucht um mich aus meiner bequemen Halterung zu zerren.
Ohne sich selbst oder mir eine kleine Pause zu gönnen, wandte er sich ein letztes Mal direkt an mich:

„Jetzt werde ich dir mal praktisch demonstrieren, wie meine Philosophie von der flachen Hand aussieht, du Blödmann.“
Mit diesen Worten hat er seine flache Hand so nachdrücklich an meine Wange gepresst, dass meine Sonnenbrille einen weiten Satz in die Botanik gemacht hätte, wenn sie auf meiner Nase gewesen wäre.
Anschließend brauchte ich erst einmal einen Moment zur Erholung. Als die Taubheit in meinem Ohr abklang, vermischte sie sich mit dem sich entfernenden Röhren des Straßenkreuzers. Ich konnte gerade noch sehen, wie er mir zum Abschied mit der flachen Hand zuwinkte.

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