Von Barbara Maahs
Ich verlasse die Dachgeschosswohnung und steige die Treppenstufen hinunter. Aus dem Wohnzimmer, das mein Sohn mit seiner Frau bewohnt, dringt lautes Gelächter. Sie hat heute Schulfreundinnen zu Besuch und deren gemeinsames Lachen schallt angenehm durchs ganze Haus. Ich gehe in die Küche und hole den Kaffee, den meine Schwiegertochter für meine Frau und mich vorbereitet hat.
„Könnt ihr euch noch an den Kinderreim ‚Mit Fingerchen, mit Fingerchen‘ aus der Kinderkrippe erinnern?“, höre ich eine Stimme.
„Den Reim gab es hier nicht, sondern nur in der DDR. Wie ging der denn noch?“
„Oh warte, ich weiß es!“, höre ich meine Schwiegertochter. „Erstens: Mit Fingerchen, mit Fingerchen aussprechen und dann mit den Fingern auf den Tischrand klopfen. Zweitens: Mit flacher, flacher Hand und dann auf den Tisch patschen …“
„Und dann mit der Faust und dem Ellenbogen. Dabei habe ich mir immer blaue Flecken am Ellenbogen geholt!“, ruft eine der Schulfreundinnen dazwischen und alle lachen wieder.
Mir läuft es kalt den Rücken herunter und ich halte in der Bewegung inne. Der Schweiß bricht mir aus und ich muss mich setzen. Erinnerungen kommen hoch, von denen ich gehofft hatte, dass ich sie tief begraben habe.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Stuhl gesessen habe, als ich die Stimme meiner Frau wahrnehme: „Hans, kommst du?“, ruft sie von der Terrasse. Nach dem ich mich wieder gesammelt habe, gehe ich hinaus und setze mich neben meine Frau Veronika an den gedeckten Kaffeetisch.
„Die Mädels haben viel Spaß da drinnen“, sagt Veronika und sieht mich an.
„Wo ist denn die Thermoskanne?“
Und als ich nicht antworte, fragt sie: „Was ist mit dir? Du siehst ganz blass aus.“
Jetzt oder nie, denke ich. Ich muss es ihr erzählen. Ich drehe mich zu meiner Frau um und sehe ihr in die Augen. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.
Sie schaut mich immer noch besorgt an.
„Du weißt doch, dass ich auf einem Bauernhof und mit fünf jüngeren Geschwistern groß geworden bin.“
Meine Frau nickt. Und sieht mich neugierig an.
Wie erkläre ich das nur? Schweiß bildet sich auf meiner Stirn.
Einfach loslegen, ermuntere ich mich innerlich selbst.
„Als Ältester musste ich morgens schon zwei Kühe melken, bevor ich zur Schule gehen durfte. Und dorthin mussten wir noch fünf Kilometer laufen, denn Fahrräder besaßen wir nach dem Krieg nicht mehr. Wenn Erntezeit war, hatten wir unsere Pflicht auf dem Feld zu tun und an Schule war dann nicht zu denken.“
„Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern“, entgegnet Veronika.
„Dann kannst du dich sicherlich auch an Lehrer Hausmann erinnern, der uns Bauernkinder immer auf dem Kieker hatte.“
„Oh ja, das war kein netter Mensch“, kommentiert meine Frau.
„Durch die schwere Arbeit auf dem Bauernhof hatte ich immer schmutzige Hände. Und es war sehr schwierig, diese sauber zu halten. Jeden Morgen holte mich Lehrer Hausmann zu Anfang der Stunde nach vorne und ich musste meine Hände flach nach vorne ausstrecken. Er begutachtete sie, wie die anderen Bauern unsere Kühe, wenn diese verkauft werden sollten.
Eines Morgens hatte ich eine der Kühe schneller gemolken, was für sie nicht angenehm war und was sie mir mit einem Huftritt honorierte. Aber so hatte ich mehr Zeit, meine Hände zu reinigen. Diesmal würde ich keine Schläge bekommen. Frohen Mutes ging ich mit meinen Geschwistern zur Schule. Natürlich forderte Lehrer Hausmann mich wieder auf, nach vorne zu kommen und meine Hände vorzuzeigen.
Nachdem ich die linke Hand flach ausgestreckt hatte, betrachtete er sie, und als er dort keinen Schmutz fand, sah er mich verwundert an. Ich triumphierte innerlich. Dann musste ich die rechte Hand ausstrecken. Er schaute mich an und sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. In seinen Augen sah ich eine bösartige Genugtuung. Mir wurde heiß. Ich schaute auf die rechte Hand und sah, dass sich unter zwei meiner Fingernägel Dreck befand. Mir wurde schlecht.
Mir fiel ein, dass meine kleine Schwester Hilde auf dem Schulweg hingefallen war, und ihr Schulkleid beschmutzt hatte. Ich hatte ihr Kleid gesäubert, damit sie keine Strafe bekam. Dabei musste ich meine Hände wieder schmutzig gemacht haben. Lehrer Hausmann griff genüsslich nach seinem Rohrstock. Er grinste immer noch hämisch.
Dann nahm er meine rechte Hand und der Rohrstock zischte in der Luft. Der Lehrer hieb mir so stark auf die Finger, dass ich dachte, ich werde ohnmächtig. Nach dem zweiten Schlag blutete die Nagelhaut und ich biss mir vor Schmerz auf die Lippen. Ich schmeckte Blut. Mit aller Gewalt unterdrückte ich den Schmerz und meine Tränen. Um nichts in der Welt hätte ich diesem Mann meine Tränen und meinen Schmerz gezeigt. Nach fünf Schlägen hörte er endlich auf.“
Ich schlucke den Schmerz der Erinnerung herunter. Veronika nimmt meine Hand und streichelt sie.
„Das war eine schwere Zeit für uns Kinder damals“, versucht sie mich zu trösten.
„Das war noch nicht die ganze Geschichte“, sage ich leise.
Ich atme tief ein und nach einer Pause sagte ich:
“Es war Heuernte und meine ganze Familie war auf dem Acker. Mein Vater hatte sich den Traktor des Nachbarn geliehen und fuhr langsam das Feld herunter. Das Heu war schon geschnitten, lag auf mehreren Haufen und musste nur noch mit den Heugabeln auf den langsam vorbeifahrenden Anhänger des Traktors geworfen werden. Das taten die Erwachsenen und wir Kinder halfen mit.
Den ganzen Tag hatte ich schon mitgeholfen und wollte eine Pause machen. Also setzte ich mich unter einen der wenigen schattenspendenden Bäume, die am Feldrand standen. Auf einmal sah ich Lehrer Hausmann auf dem Acker. Ich weiß nicht, wie er dort hingekommen war und was er wollte. Über uns in der Luft war ein lautes Brummen zu hören. Der Lehrer schützte sein Gesicht mit den Händen vor der blendenden Sonne und schaute in den Himmel. Mein Blick ging ebenfalls gen Himmel. Ein Flugzeug tauchte auf.
Im Augenwinkel sah ich, dass mein Vater mit dem Traktor rückwärts fuhr und immer näher auf Lehrer Hausmann zu, welcher noch immer in den Himmel schaute.
Keiner schien die Gegenwart des Lehrers bemerkt zu haben. Nur ich schaute wie erstarrt in seine Richtung. Ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine gehorchten mir nicht, und als ich den Mund öffnete brachte ich keinen Ton heraus. Als wenn mich irgendeine Macht abhielte, etwas zu tun. Mein Körper war wie gelähmt. Ein lauter unmenschlicher Schrei durchbrach die bäuerliche Ernteidylle. Für eine Sekunde blieb die Welt stehen. Nichts rührte sich. Durch den Schrei aufgeschreckt stoppte mein Vater den Traktor und die anderen rannten zum Anhänger.
Plötzlich vernahm ich den entsetzten Schrei meiner Schwester Ilse. Mein Vater hatte nun auch den Anhänger erreicht und bückte sich Richtung Boden. Danach erhob er sich, drehte sich zu den anderen um und schüttelte den Kopf.
Auf einmal hörte ich Weinen und Kreischen, aber ich war immer noch wie erstarrt. Ich lief nicht zur Unfallstelle, denn ich wusste, was ich dort sehen würde. Eine unserer Hofkatzen war mal unter das Fuhrwerk gekommen und wurde zerquetscht. Sie war ein hinterhältiges Tier, das mich immer unvermittelt ansprang und mir dann die Arme zerkratzte. Dennoch, als ich sie so liegen sah, dachte ich noch, dass selbst diese freche Katze dies nicht verdient hatte.
Aber hier spürte ich nichts. Ich horchte in mich hinein. Nichts. Oder? Doch ein Gefühl war da. Und dieses erschreckte mich. Es war Erleichterung! Leichtigkeit und Befreiung machten sich in mir breit. Aber ich muss doch dieses Gefühl unterdrücken und Scham oder Trauer empfinden beim Tod dieses Menschen. Aber die Erleichterung blieb.“
Ich räuspere mich und sagte mit erstickter Stimme:“ Niemandem habe ich jemals erzählt, dass ich alles gesehen hatte. Niemand weiß es. Ich hätte etwas tun müssen.“
Eine Weile ist es still. Keiner von uns sagt etwas. Zögerlich blicke ich zu meiner Frau.
„Wir waren Kinder. Verletzte, ängstliche Kinder, die der Willkür mancher Menschen ausgesetzt waren. Wenn unsere Eltern es nicht getan haben, hat uns niemand geschützt.“ erwidert Veronika.
„Das war ein schreckliches Unglück. Aber was hättest du denn tun können? Wenn du gerufen hättest, wäre deine Stimme durch das laute Brummen des Flugzeuges untergegangen. Und der Traktor war bestimmt auch nicht gerade leise.“
Ich denke über ihre Worte nach. „Das habe ich noch nie so gesehen, ich sah immer nur meine Schuld. Und die versuchte ich immer zu verdrängen. Dabei war ich viele Jahre immer noch erleichtert, denn nach ihm bekamen wir einen großartigen Lehrer, der alle Kinder gut behandelte. Es machte Spaß, bei ihm zu lernen. Er war es auch, der sich bei meinen Eltern dafür einsetzte, dass ich aufs Gymnasium durfte. Ohne ihn wäre ich kein Lehrer geworden.“
„Und ohne ihn wärst du kein guter Lehrer geworden. Mit Lehrer Hausmann wäre das nicht möglich gewesen,“ setzt sie hinzu. Wir schweigen.
„Wenn ich jetzt so über deine Geschichte nachdenke, kann ich deine Erleichterung verstehen.“
„Wirklich?“, frage ich ungläubig. „Aber dennoch hatte er ein solches Ende nicht verdient!“
Veronika erwidert: „Ich denke, hier geht es nicht um den Lehrer Hausmann, ob er so ein schreckliches Ende verdient hat oder nicht. Hier geht es um dich. Um den kleinen Jungen, der immer noch in dir ist, und sich für sein Gefühl der Erleichterung schämt. Dein Gefühl war menschlich und nachvollziehbar. Du hast nichts falsch gemacht.“
Ihre Worte machen mich sprachlos und ich sehe den kleinen Jungen vor meinem inneren Auge, der ich mal war. Verwirrt und beschämt über seine damaligen Gefühle.
Ich spüre einen Kloß im Hals und merke wie mir die Tränen in die Augen steigen. Behutsam nimmt mich meine Frau in den Arm.
Version 2
9.614 Zeichen
Kinderreim aus der DDR:
Mit Fingerchen, mit Fingerchen
(mit beiden Zeigefingern auf den Tischrand klopfen)
mit flacher, flacher Hand (auf den Tisch patschen)
mit Fäustchen, mit Fäustchen (auf den Tisch klopfen)
mit Ellenbogen (auf den Tisch klopfen)
patsch, patsch, patsch (in die Hände klatschen)
wir nehm` die Hände auf den Kopf und formen einen Blumentopf (mit den Händen ein Gefäß formen und auf den Kopf stellen)
nun schauen wir mal durch die Brille (mit Daumen und Zeigefinger eine Brille bilden)
und sind mal ganz mucksmäuschenstille…. (Finger auf den Mund)