Von Vanessa Wedekämper

„Aufgrund einer Signalstörung wird sich unsere Weiterfahrt um wenige Minuten verzögern. Wir bitten um Entschuldigung.“

 

Emma verdrehte die Augen. Nicht das noch. Der Zug hatte mitten auf der Strecke gehalten und wartete jetzt darauf, weiterfahren zu können. Die Sonne, war jetzt kurz davor in den schönsten Farben unterzugehen. Aber das munterte Emma nicht auf. Sie wollte nach einem schönen, aber anstrengen Wochenende einfach nur nach Hause. Um sich etwas abzulenken, steckte sie sich die Kopfhörer in die Ohren und hörte einen ‚True Crime‘ Podcast.

 

Wieder fiel ihr Blick auf die Uhr. Schon zwanzig Minuten. An ihrem nächsten Zwischenhalt hätte sie eine halbe Stunde Umsteigezeit gehabt. Also könnte sie den Anschluss noch erwischen, aber nur wenn der Zug jetzt endlich losfuhr. Sie wusste Nichtmal, ob danach noch ein Zug fahren würde. Zum dritten Mal versuchte sie, die Verbindung mit ihrem Handy zu prüfen. Aber vergeblich. Hier, mitten auf der Strecke, hatte sie einfach keinen Empfang.

 

Schon als sie in den kleinen Bahnhof einfuhren, sah Emma, dass das einzige weitere Gleis leer war. Ihre letzte Hoffnung war, dass auch ihr Anschluss Verspätung hatte. Aber mit einem Blick auf die Anzeige hatte sich auch das erledigt. Sie zeigte leider auch, dass der nächste Zug erst in zwei Stunden fuhr. Für einen kurzen Moment war sie erleichtert, dass überhaupt noch was fuhr. Aber die nächsten zwei Stunden hier festzusitzen, war auch keine schöne Vorstellung. Genervt kickte sie einen Stein vor sich her. Außer ihr hatte noch ein junger Mann den Zug verlassen. Auch er warf einen Blick auf die Anzeigetafel. Er musterte sie interessiert und schlenderte dann zur Straße. Niedergeschlagen ließ sich Emma auf eine Bank in einem Glasunterstand fallen. Ein unangenehmer Geruch, nach kaltem Rauch und Ammoniak stieg ihr in die Nase. Nur ein paar Laternen spendeten fahles Licht. Auf dem Boden neben ihr stand eine leere Wodkaflasche, umzingelt von einigen Zigarettenkippen. Erst jetzt, als sie sich hier umsah, merkte sie, dass sie alleine war. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, ansonsten hörte sie nur ihren eigenen Atem. Sie steckte sich die Kopfhörer wieder ein und schaltete den Podcast an. Für einen kurzen Moment versank sie in der Geschichte.

 

Das Mädchen bemerkte ihren Mörder erst, als er schon direkt hinter ihr stand“, sagte der Sprecher des Podcasts. Etwas knackte. Erschrocken drehte sie sich um, doch da war nichts. Vielleicht war es nur ein Vogel oder ein Fehler der Kopfhörer, dachte sie und lauschte wieder der Geschichte. „Niemand war da, um ihr zu helfen.“ Langsam stellten sich die Härchen auf Emmas Armen auf. Nochmal ließ sie ein Knacken aufschrecken. Diesmal hatte sie das Gefühl, es käme eher von der Seite. Erneut fuhr sie herum, aber auch diesmal konnte sie nichts sehen. „Niemand höre ihre verzweifelten Schreie.“ Resigniert zog sie die Kopfhörer aus den Ohren. Für ‚True-Crime‘ war es jetzt einfach zu unheimlich. Von weitem hörte sie, einen Betrunkenen ein Lied vor sich hin grölen. Kurz darauf ging Glas zu Bruch. Das Grölen wurde mal leiser und mal lauter. Kam er näher? Sie konnte spüren, wie ihr Herz schneller schlug. Emma blickte sich um. Hier war weit und breit niemand der ihr helfen könnte. Sie war ganz allein. Vehement schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit die Gedanken abschütteln. „Die Fantasie geht mit dir durch!“, sagte sie zu sich selbst. Aber beruhigen konnte sie sich damit nicht. Sie machte sich Musik an, aber diesmal nicht über die Kopfhörer, damit sie um sich herum alles mitbekam. Wen sollte sie mit der Musik schon stören? Höchstens ein paar Ratten, aber die konnte sie eh nicht leiden.

 

Wieder wurde das Grölen lauter. Sie überlegte kurz, ob sie die Musik lauter stellen sollte, um das Grölen zu überdecken. Aber stattdessen schaltete sie die Musik aus. Diesmal kam es definitiv näher. Um das Geschehen nicht länger im Rücken zu haben, stand sie auf. Unruhig lief sie ein paar Schritte hin und her. Plötzlich tauchte er auf der anderen Straßenseite im Schein einer Laterne auf. Schunkelnd, in einer Hand die Bierflasche hocherhoben. Emma schlich weiter in den Schatten. Abrupt blieb er stehen. Er schien sie direkt anzustarren. Konnte er sie in der Dunkelheit wirklich sehen oder hatte er sie nur gehört? Sie hielt den Atem an. Langsam torkelte er weiter, von einer Laterne zur anderen. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Erst als sie sich sicher war, dass er nicht wieder kam, atmete sie erleichter auf. Nach kurzem Warten stellte sie die Musik leise an. Doch hinsetzten wollte sie sich nicht mehr. Am liebsten wäre sie einfach zu einem Supermarkt oder einem Kiosk gelaufen, um da die Zeit zu verbringen. Aber die Chance, dass noch etwas aufhatte, war zu gering. Und die Wahrscheinlichkeit, wieder auf unheimliche Gestalten zu treffen … Etwas berührte sie an er Schulter. Reflexartig drehte sich um und schrie. Eine große, dunkle Gestalt stand vor ihr. Panisch holte sie aus und schlug so fest zu, wie sie konnte. Der junge Mann taumelte ein Stück zurück und hielt sich mit einer Hand die Wange.

 

„Du hast aber einen ganz schön kräftigen Schlag drauf“, sagte er mit schmerzverzerrtem Lachen.

 

Erst langsam merkte Emma, dass es nicht der betrunkene Gröler war, sondern der junge Mann, der mit ihr aus dem Zug gestiegen war.

 

„Ich mag es, wenn sie sich wehren“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Emma. Immer noch mit einem ekeligen Lachen.

 

Sie wollte wegrennen. Aber er war schneller. Packte sie an beiden Armen. Mit voller Wucht schubste er sie gegen das Glashäuschen. Den Schmerz merkte sie nicht, aber ihre Beine gaben nach und sie rutschte zu Boden. „Niemand war da, um ihr zu helfen.“, hallte der Podcast in ihrem Kopf nach. Emma raffte sich wieder auf. Doch bevor sie fliehen konnte, packte er sie wieder an den Armen. Mit seinem Körpergewicht drückte er sie gegen die Glaswand. Sie schrie, so laut sie konnte. „Niemand höre ihre verzweifelten Schreie.“ Mit aller Kraft wand sie sich. Sie versuchte zu treten, aber die Tritte verfehlten ihr Ziel.

 

Er lachte laut auf. „Du hast keine Chance.“

 

Aber noch gab sie nicht auf. Ruckartig schnellte sie mit dem Kopf nach vorne und biss ihm in den Arm. Er schrie. Emma konnte sein Blut schmecken. Doch er ließ sie nicht los. Er riss sie zu Boden und kniete sich über sie.

 

Wieder klirrte Glas. Der Angreifer sackte langsam in sich zusammen. Erst jetzt sah sie den Gröler, der nun nur noch den zersplitterten Hals seiner Bierflasche in der Hand hielt. Noch bevor sie verstand, was passiert war, reichte er ihr die Hand und half ihr, sich aufzusetzen. Dann setzte er sich umständlich auf den Rücken des Angreifers. Nicht, dass es wirklich nötig gewesen wäre, denn dieser rührte sich nicht mehr.

 

Bald darauf tauchte das Licht von Polizei und Krankenwagen die Nacht in ein tiefes Blau.

 

 

 

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