Von Gabriele Sodeur

„Du musst Rue Victor Hugo eingeben, in der Nähe davon war doch das Parkhaus.“

„Gibt‘s nicht.“

„Was heißt hier, gibt‘s nicht‘, natürlich gibt‘s die. Das hab ich mir gemerkt. Victor Hugo ist mein französischer Lieblingsdichter!“

„Warte, ich schau im Handy nach, wo‘s hier überhaupt Parkhäuser gibt.“

„Und?“

„Moment, ich hab’s gleich. Genau, das ist nicht die Rue Victor Hugo sondern der Boulevard Victor Hugo. Ist gleich hier vorne, Nice Etoile, jetzt fällt mir der Name wieder ein.“

An der Leine zerrt der Hund, aber die Richtung stimmt, sodass ich mich von ihm ziehen lasse, vorbei an Mann und Sohn. Ich höre gerade noch, wie sie über den Unterschied zwischen „Rue“ und „Boulevard“ diskutieren im Vergleich zur englischen „Street“ und „Road“. Im Deutschen heißt das alles einfach nur „Straße“.

Da kommt auch schon „unsere“ Tiefgarage. Links den Hund, auf der anderen Seite meine Tasche über der Schulter, klapper ich mit meinen Slippern die Treppen hinunter. Ich greife rechts an das Treppengeländer, als ich in meinem Rücken schnelle Schritte höre. Ich spüre sie ganz nah hinter mir und fühle auf der Schulter am Riemen meiner Tasche einen leichten Druck nach unten. Ich denke, mein Sohn ist hinter mir und will die Mutter erschrecken, schaue runter auf meine Tasche und sehe, dass sie offen ist und der Geldbeutel nicht mehr darin.

Ruckartig dreh ich mich um.

Direkt hinter mir ist niemand mehr. Mein Blick läuft die Treppe hinauf und ein Stück weiter oben auf dem Treppenabsatz bleibt er im Gegenlicht an einem dunklen Schatten hängen. Ohne eine Sekunde zu zögern, renne ich die steile Treppe hinauf. Der Hund freut sich über den schnellen Sprint und ist dabei. Auf dem Absatz stoppen wir beide vor der dunklen Gestalt, die immer noch wie angewurzelt dort steht und ich bring den barschesten französischen Satz hervor, der in diesem Moment aus der äußersten Hinterrinde meines Hirns in meinen Mund gefunden hat:

„Hey, qu’est-ce que ça veut dire? – Was soll d a s denn?“
Dabei schaue ich für einen Augenblick in zwei tiefdunkelbraune, samtweiche Augen, die aus einem dunklen Gesicht herausfunkeln, und es geschieht etwas ganz Unglaubliches: In Zeitlupentempo führt diese Schattengestalt ihre rechte Hand in die Hosentasche. Meine Knie werden ganz weich, ein trockener Kloß hängt in meiner Kehle, ich versuche ihn runter zu schlucken, er klebt fest, ich halte den Atem an und erstarre in der Bewegung. Nur den Hund ziehe ich langsam ganz nah an mich heran, wie um mich seines Beistandes zu versichern. In derselben Langsamkeit, wie sie in die Hosentasche gelangt ist, zieht mein Gegenüber seine Hand nun wieder da heraus und streckt sie mir, mit der flachen Handfläche nach oben, entgegen:

„Eh ben, c’est ça que tu veux? – Äh, meinst Du das?“
Es ist mein Portemonnaie, das da auf seiner helleren mit dunklen Linien durchzogenen Handinnenfläche liegt.

„Oui“, flüster ich, wie in Trance, und nicke.
Dann nehme auch ich mit einer sehr langsamen Bewegung den Geldbeutel aus seiner Hand, einer Hand mit unglaublich feingliedrigen langen Fingern. Für ein Zehntel einer Sekunde berühren sich unsere Hände, wobei ich wie von einem kurzen Stromschlag durchzuckt werde.
Ich, den Mund halb geöffnet, schaue ihn entgeistert an.
Da dreht sich der Mann um und ich sehe nur noch, wie er blitzartig, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufstürmt und oben im Ausgang der Tiefgarage vom Gegenlicht verschluckt wird.

In dem Moment schieben sich zwei andere große Gestalten in mein Blickfeld, die nun ihrerseits auch diesem Passanten, der da so schnell unterwegs ist, hinterher blicken. Sie kommen mit schnellen Schritten auf mich zu:

„Was war das denn jetzt?“, fragen Mann und Sohn gleichzeitig, als sie mich da so ton- und regungslos auf dem Treppenabsatz stehen sehen. Selbst der Hund sitzt, ohne einen Mucks von sich zu geben, ganz brav neben mir.

„Da haben wir hier aber einen richtigen Wachhund“, bring ich mit stockender Stimme hervor und, als ob er das als großes Lob ansieht, fängt unser Hund an, mit dem Schwanz zu wedeln und bejahend zu bellen.
Ich hole eine Wasserflasche aus meiner Tasche und spüle den Kloß, der immer noch in meinem Hals zu sitzen scheint, mit einem großen Schluck hinunter.

Langsam fällt die Anspannung von mir ab und so erzähle ich meinen zwei Männern die ganze unglaubliche Geschichte, die ich gerade erlebt hatte. 
„Da hast du aber verdammt viel Glück gehabt“, meinen danach die beiden unisono.

*

Wie viel Glück, weiß ich drei Wochen später, als ich wieder zu Hause bin.

„Schau mal, Schatz, was heute in der Zeitung steht: 
Raubüberfall in Nizza. In einer Tiefgarage. 
Mann mit Messer niedergestochen. 
Der Täter ist noch flüchtig …“

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