Von Peter Wobbe

Heute war der erste Tag als Seiteneinsteiger in seinem neuen Beruf als Lehrer. Erwartungsfroh und nervös zugleich hatte Carsten das alte Backsteingebäude aus der Gründerzeit betreten und sich über die strenge Eingangskontrolle und die vergitterten Fenster gewundert. Von der Rückseite des Gebäudes hörte er lautes Kindergeschrei und chorartige Anfeuerungsrufe, dann das Splittern von Glas.
Er hastete durch das breite Treppenhaus mit seinen schmutzig grauen Wänden in den dritten Stock. Keuchend stieß er die schmierige Glastür des langen Flurs auf. Den Blick immer auf die Nummern der Räume gerichtet, ging er weiter und blieb vor der 313 stehen. Nestelte sich die Krawatte zurecht, schloss die Anzugjacke und lauschte kurz an der Tür, bevor er zaghaft klopfte.
Von drinnen kam ein bellendes „Herein!“
Zögerlich drückte er die Messingklinke herunter und trat ein.
Ein Schwall stickiger, abgestandener Luft empfing ihn, er musste ein Würgen unterdrücken.
Hinter dem Pult vor der Schultafel saß ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit Halbglatze und Hornbrille.
Aufmunternd winkte er Carsten zu, näherzutreten.
„Sie sind sicherlich der Neue, Herr Wegner, wenn ich mich nicht irre“, brummte er erfreut. „Mein Name ist Meinrad, von der Parallelklasse. Der Rektor bat mich, Ihnen ein paar Tipps mit auf Ihren Weg zu geben. Quasi als eine Art Mentor.“
Behäbig erhob er sich von seinem Stuhl und kam ein paar Schritte auf Carsten zu.
Carsten meinte, er wolle ihm die Hand schütteln, doch als Meinrad ihn fast erreicht hatte, hob er die rechte Handfläche zu einem „High Five“ und wartete geduldig auf die Erwiderung des sehr verdutzten Carsten.
„Haben wir von unseren Schülern übernommen“, setzte er lachend als Erklärung hinzu.
Dann drehte er sich zum leeren Klassenraum, machte eine ausschweifende Armbewegung und sagte: „Das ist jetzt Ihr Reich!“
Mit einem Griff in die Hosentasche holte er ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
„Schauen Sie sich ruhig um, bevor Ihre Klasse kommt.“
Carsten blickte auf ein Chaos aus verschobenen Tischen, umgestürzten Stühlen und teilweise geleerten Rucksäcken.
„Na ja, Sie werden hier schon Ordnung hereinbringen; man sagt ja, neue Besen kehren gut.“
Carsten meinte, im letzten Satz eine gewisse Ironie herausgehört zu haben, und nickte langsam.
„Mein Raum befindet sich genau auf der anderen Seite des Flurs, die 314. Ein lauter Hilferuf genügt.“
„Ja, aber …“
Doch jetzt schüttelte sein Gegenüber energisch den Kopf.
„Wir haben nicht viel Zeit, bis die Pause zu Ende ist, und Sie müssen einiges wissen, bevor Sie hier loslegen.
In letzter Zeit gab es einige kleinere Zwischenfälle auf dieser Schule und deswegen – das haben Sie sicherlich schon bemerkt – patrouillieren uniformierte Sicherheitskräfte auf dem Schulgelände. Die unterstützen uns auch bei den verpflichtenden Übungen für das Lehrerkollegium an jedem ersten Samstag im Monat. Die beinhalten Selbstverteidigung und Deeskalation mit dem Ziel einer Reduzierung der Eigengefährdung. Wir sind schließlich in der Minderheit.
Ihre Unterlagen und das Klassenbuch können Sie in die Pultschubladen legen. Aber Achtung, die haben keine Schlösser mehr, weil sie zu häufig aufgebrochen wurden, deshalb immer ein Auge draufhalten!
Schlüssel und Wertsachen müssen Sie bei sich tragen oder in Ihrem Schrank im Lehrerzimmer deponieren. Kinder sind gewieft.
Vielleicht wundert es Sie, dass die Fenster geschlossen sind, doch die Abgase von der Hauptstraße und der Lärm der vorbeifahrenden S-Bahn machen einen Unterricht sonst unmöglich.
Wie gesagt, es gab da einige Zwischenfälle und deshalb setzen wir zusätzlich auf einem Teil des Schulgeländes ein Video-Überwachungssystem ein. Aber fühlen Sie sich trotzdem fast unbeobachtet, denn die Aufnahmen werden nach drei Tagen gelöscht.
Und glauben Sie nicht alles, was in der Zeitung steht; die Schule ist sicher.
Doch achten Sie auf Ihren Rücken! Es mag vielleicht schneller gehen, wenn Sie selbst an die Tafel schreiben, aber dann sind Sie ungeschützt. Fordern Sie einfach ein Kind auf, das Gesprochene anzuschreiben, so haben Sie den Rest im Blick.
Verraten Sie keinem der Schüler oder Eltern Ihre Telefonnummer oder Adresse! Es wäre ein unnötiges Risiko. Kinder sind schlau.
Morgen gebe ich Ihnen einen Schlüssel für den Hintereingang, so brauchen Sie nicht durch den Metalldetektor und ein Spalier von Jungen und Mädchen.
Verbotene Gegenstände werden konfisziert, doch auch eine Schleuse hat ihre Schwächen. Wenn Sie tatsächlich mal lange Objekte aus Gürtel oder Schultasche ragen sehen, bleiben Sie gelassen und vermeiden abrupte Bewegungen! Kinder sind wie wilde Tiere, sie riechen die Angst.
Ignorieren Sie aufgedunsene Gesichter und erweiterte Pupillen, aber bestrafen Sie jeden Alkoholgenuss auf dem Schulgelände.
Am Ende des Flurs befindet sich das Lehrerzimmer. Dort dürfen Sie rauchen, einen Kaffee trinken oder sich einen Schnaps genehmigen. Der Rektor schaut darüber hinweg, denn manchen Lehrern gibt es die notwendige Kraft, über den Tag zu kommen.
Kommen Sie mit dem Auto zur Schule?“
Carsten nickte.
„Dann sollten Sie Ihren Wagen in einer entfernten Seitenstraße parken. Schüler versuchen, sich auf verschiedenste Arten an Lehrerautos zu verewigen. Mit Lackkratzern, Graffiti oder einfach dem Entfernen der Luft aus den Reifen.
Und noch ein Tipp für den äußersten Notfall: Drücken Sie den roten Knopf, der sich in einem kleinen Kasten im Treppenhaus befindet! Der ruft zwar nur die Feuerwehr, aber nach einer Weile bekommen Sie Unterstützung. Kaltes Wasser aus dem Schlauch hat noch alle überhitzten Gemüter beruhigt.“
Abwehrend hob Carsten die Hände und wollte gerade etwas einwenden, doch Meinrad ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Ich bitte Sie“, japste er und rang nach Luft, „wir brauchen Sie  j e t z t! Nach der vierten Stunde haben Sie Hofaufsicht, als Ersatz für den ausgefallenen Kollegen. Der liegt noch im Krankenhaus, ist aber hoffentlich bald wieder ansprechbar. Der Fall wird noch untersucht. Seine Versetzung war schon genehmigt. Uns ist es ein Rätsel, wie er die Treppe herunterfallen konnte. – Andererseits“, seufzte Meinrad, „Lehrkörper werden gern auf ihre Haltbarkeit getestet.“

Als das schrille Läuten der Schulglocke einsetzte, schritt Meinrad zur Tür, drehte sich noch einmal kurz um, lächelte und rief: „Und jetzt viel Glück mit Ihren neuen Schülern!“

 

Version 2