Von Gabriele Lengemann                                                     

„Wollt ihr wirklich dasselbe Modell und dann auch noch in derselben Farbe?“, fragte der Verkäufer.
„Ihr seid doch keine Zwillinge.“
„Wären wir aber gern“, entgegnete Greta. Und so kauften sie und Jule die gleichen weißen Jeans, die vorn in Kniehöhe und unter dem Po eingerissen waren, und sie kauften sie beide in der kleinsten Größe. Greta musste sich zwar richtig anstrengen, um den Knopf vorn zu schließen, aber knallig eng musste so eine Hose schon sitzen.

Es war ein klarer Julimorgen, der die kühle Luft der Nacht noch mit sich trug, und der Einkaufsbummel versetzte die beiden 13-jährigen Mädchen in allerbeste Ferienlaune. Vor ihnen lagen unendlich lange, freie Tage, in denen der Sommer sehr groß und voller Abenteuer sein würde.

Am liebsten wären sie gleich ins Schwimmbad gefahren, hätten sich in den Jeans auf einer Decke drapiert und getan, als sähen sie die beiden Jungen nicht, die dort seit Tagen um sie herumschlichen.  Da nach dem Hosenkauf jedoch im Portemonnaie ziemliche Ebbe herrschte, mussten sie den Plan verwerfen.

Sie hatten für die Jeans eisern gespart, hatten Besorgungen für Nachbarn gemacht, abends Kinder gehütet und eine kleine finanzielle Belohnung gab es gestern fürs Zeugnis. Viel war das nicht gewesen. Bei Greta zuhause waren sie fünf Kinder. Jule lebte allein mit ihrer Mutter und auch da war das Geld immer knapp.
„Okay“, sagte Jule, nachdem sie das restliche Kleingeld aus dem Portemonnaie gefischt hatte, „eine Kugel Eis ist noch drin. Mehr darfst du sowieso nicht essen, sonst platzt die Hose.“
Beide entschieden sie sich für Haselnuss und schlenderten mit der Eiswaffel in der einen und der Jeanstüte in der anderen Hand zur Straßenbahnhaltestelle. Seit sie denken konnten waren sie befreundet, wuchsen in derselben Siedlung am Stadtrand auf.

Bei Jule zuhause zogen sie die neuen Jeans an und probierten damit allerhand Posen vor dem großen Spiegel im Flur. Jule hatte ihrer Mutter die Hose bereits auf einer Internetseite gezeigt, und wie zu erwarten war, fand diese die Hose schrecklich. Viel zu viel Geld für solch einen Fetzen und sicher würden die Nachbarn über Jule reden, wenn sie “halbnackt“ herumlaufen würde. Die Nachbarn reden doch sowieso über uns, dachte Jule. Sie reden, weil ich dunkle Haut und diese schrecklichen krausen Haare habe, aber sie reden auch, weil das protzige Auto deines neuen Freundes so oft vor unserer Haustür parkt.

„Komm, lass uns rausgehen“, schlug Greta vor. „Hier sieht uns doch niemand in den Jeans“. Sie verließen die Wohnung und schritten zügig mitten auf der Straße, wobei sie sich übertrieben in den Hüften wiegten. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel und der Asphalt glühte unter den Flip-Flops der Mädchen. Leider fehlte es an Publikum für ihre Vorführung, denn die Straße und die umliegenden Gärten waren in der Mittagshitze menschenleer. Jule sehnte sich nach einer Abkühlung.
„Lass uns an den Bach gehen und die Füße reinhalten“, schlug sie vor.
Die beiden liefen zu einem nahegelegenen Waldstück, durch das ein kleiner Bach floss, an dessen Ufer ihre Mütter sie schon im Kinderwagen spazieren gefahren hatten. Seit einiger Zeit war dort am Ast eines großen, am Wasser stehenden Baumes ein dickes Tau befestigt, an dem man sich über den Bach auf die andere Seite schwingen konnte. Das hatten Greta und Jule schon einige Male probiert und es machte richtig Spaß.
Greta streifte sofort ihre Flip-Flops ab, fasste das Seil über ihrem Kopf und nahm Anlauf. Sie stieß sich am Ufer ab und schwang sich, behände wie ein Äffchen, über das Wasser. Leichtfüßig landete sie im weichen Gras auf der anderen Seite.
„Du kannst jederzeit als Tarzan-Double anfangen“, lachte Jule. „Komm und rette mich, Tarzan“, rief sie Greta zu.
Greta kicherte. „Keine Angst, meine kleine Jane, ich bin gleich bei dir.“
Sie lief wieder mit dem Seil auf das Wasser zu.
Irgendwie musste sie sich dann beim Absprung aber verschätzt oder zu wenig Schwung geholt haben, denn sie klatschte, einen lauten “Tarzanschrei“ ausstoßend, gegen die verschlammte Böschung des Baches, klammerte sich dort an den Wurzeln eines Baumes fest und ließ sich seitlich in den Matsch fallen.
Jule eilte zu ihr und Greta zog sich an ihrer ausgestreckten Hand die Böschung herauf.  Dann stand sie da, nass und schlammig von den Füssen bis zu den Knien, so als habe sie braune Stiefel an. Erdklumpen hingen an ihrem Hinterteil und durch die Risse in der Hose quoll lehmiger Brei. Der Hosenknopf war abgesprungen. Greta sah entsetzt an sich herunter.
„Eigentlich wollten wir doch nur die Füße ins Wasser halten“, sagte Jule. „Hast du dir wehgetan?“
Ihre Stimme bebte, sie musste sich anstrengen das Lachen zu unterdrücken. Greta schüttelte den Kopf und dann lachten beide Mädchen, bis ihnen die Tränen kamen. Zuhause bei Jule duschte Greta und ließ die schmutzige Jeans über dem Badewannenrand hängen.

Jule schaltete den Fernseher an und zog die Gardinen zu. So saßen die beiden, ein wenig müde, nebeneinander auf dem Sofa, als Jules Mutter die Wohnungstür aufschloss. Sie war blass und wirkte angespannt.
„Ach, die beiden Grazien “, rief sie, einen Blick in das Wohnzimmer werfend. „Habt ihr heute tatsächlich euer ganzes Geld für kaputte Hosen ausgegeben?“

„Nicht alles, Mama“, sagte Jule „Ich habe Kaffee gekocht.“
Sie wusste nur zu gut, dass ihre Mutter, wenn sie von der Arbeit kam, zunächst ein Ventil für ihre schlechte Laune brauchte. Nach einem Kaffee und zwei, drei Zigaretten wurde es oft besser. Aber in letzter Zeit wird es immer schlimmer, sie wird immer trauriger und verschlossener, dachte Jule.  An ihr konnte es doch eigentlich nicht liegen, sie versuchte der Mutter keinen Ärger zu machen, strengte sich in der Schule an und half oft im Haushalt. Sie versuchte sogar zu dem neuen Freund von Mama höflich zu sein.
Wahrscheinlich war der daran schuld, dass es Mama so schlecht ging. Gestern hatte sie geweint, nachdem er weggefahren war, und dann hatte sie die Türen geknallt. Als Jule sie fragte, was denn los sei, sagte sie:
„Es ist eben schwer, in meinem Alter und dann noch mit einem Kind einen neuen Partner zu finden.“
Eigentlich war Jule froh, dass der Typ nun wahrscheinlich nicht mehr oft auftauchen würde. Sie vermutete sowieso, dass da irgendetwas nicht stimmte, weil er immer nur nachmittags zu Besuch kam. Wahrscheinlich durfte seine Frau nichts davon wissen.  Aber nun war Mama wieder so traurig, und das Leben war nicht schön mit einer unglücklichen, unzufriedenen Mutter.

Jule träumte oft davon, bei ihrem Vater zu leben. Er war Jamaikaner und konnte Saxofon spielen. Ihre Mutter hatte ihn abends in der Bar kennengelernt, in der er einen Auftritt hatte, und die Nacht mit ihm verbracht. Am nächsten Tag war er verschwunden. „Jayden“ sei sein Vorname, groß und gutaussehend sei er gewesen und sehr charmant. Das war alles, was Jule wusste. Keine guten Voraussetzungen, ihn je zu finden.

In ihren Träumen jedoch, da suchte und fand er sie! Er war ein berühmter Musiker, nahm sie mit auf Tournee und stellte sie überall als seine Tochter vor, auf die er sehr stolz sei. Ihre Mutter kam nicht vor in diesen Träumen.

Jule überlegte gerade, ob sie vielleicht besser zu Greta gehen sollten, damit Mama sich nach der Arbeit ausruhen konnte, da stand diese auf einmal unvermittelt vor ihr. In ihren Augen flammte ein unbändiger Zorn. Sie machte mit erhobenem Arm einen Schritt auf Jule zu und dann holte sie aus und schlug ihre Tochter mit der flachen Hand fest ins Gesicht. Jule schrie auf, teils vor Schmerz, aber auch vor Wut. Sie stieß die Mutter zurück.
„Spinnst du?“, schrie sie.
Greta war aufgesprungen und an die Tür zurückgewichen.
„Damit du endlich lernst, besser auf deine Sachen aufzupassen“, fuhr die Mutter Jule an.
„Da können wir das Geld gleich aus dem Fenster werfen.“
„Aber das ist doch meine Hose, die da im Bad hängt“, rief Greta. „Ich bin in den Bach gefallen.“
 Die Mutter sah Greta unsicher an.
„Eigentlich ist sowas ja typisch für meine Tochter. Ach, du hast das schreckliche Teil ja an“, wandte sie sich wieder an Jule. “Das habe ich nicht gesehen, ihr habt es ja so dunkel hier.“
Sie lachte verlegen, als sie das Wohnzimmer verließ.

Am Abend begleitete Jule Greta nach Hause. Greta schwenkte die Plastiktüte mit der schmutzigen Hose und schlenkerte sie ab und zu gegen die Beine der Freundin.
„Sieh nur“, Greta hielt Jule die geöffnete Tüte hin. Darin lag die Hose, ordentlich zusammengefaltet. Sie war nass und hatte einige Flecken, war aber lange nicht so schmutzig und dreckverklumpt, wie sie im Badezimmer zurückgelassen worden war.

„Sie hat sie mir ausgewaschen“, sagte Greta, „und sie hat mir einen neuen Knopf angenäht, damit ich zuhause keinen Ärger bekomme.“
„Na super!“, sagte Jule und nach einer Weile: „Zu dir ist sie auch viel netter, ich mache nichts richtig, ich glaube, ohne mich ginge es ihr besser.“
„Blödsinn“, sagte Greta. „Rede dir das nur nicht ein.“
 Den Rest des Weges schwiegen sie.

In der engen Wohnung, in der Greta und ihre Familie lebte, ging es zu wie in einem Taubenschlag. Die beiden Kleinen liefen wie angestochen um den Küchentisch, den die Mutter für das Abendessen herrichtete. Gretas älterer Bruder stöhnte theatralisch auf, als er Jule und Greta sah und rief:
„Was wollt ihr denn? Es sollte doch ein schöner Abend werden“.  Der Vater saß im Wohnzimmer und las die Zeitung.
„Na, ihr beiden Hübschen“, rief er herüber. „Hattet ihr einen schönen Tag?“  
Greta stellte die Tüte mit der Hose neben der Garderobe ab und niemand nahm Notiz davon. Ihre Mutter strich Jule übers Haar:
„Du isst doch mit uns, Kind?“, fragte sie
Jule sah sich um, tauchte ein in die Wärme und Geborgenheit dieser Küche und genoss das Lachen und die liebevolle Atmosphäre. Sie sah zu Greta, die zwei Teller aus dem Hängeschrank nahm und nebeneinander auf den Tisch stellte.
Jule nickte.
„Gern“, sagte sie.

 

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