Von Eva Fischer

Mit jedem Tritt in die Pedale schießt das Adrenalin direkt in mein Blut. Ich bin süchtig. Wenn ich morgens aufwache, möchte ich gleich losradeln. Wind und Wetter machen mir und meiner Kurzhaarfrisur nichts aus. Vielleicht liegt es dran, dass ich gebürtig von der Nordsee stamme. Da würde ich vieles verpassen, wenn ich nur bei „schönem“ Wetter aufs Rad stiege.

Heute sind die Wetterbedingungen allerdings günstig. Kein Wind, kein Regen, kein Schnee. Na ja, das kommt im September auch seltener vor in unseren Breiten. Im August hatte ich meinen letzten Arbeitstag. Irgendwann kriegt jeder Rente, auch wenn er sich weder alt noch schwach fühlt. Dann muss man sich neue Ziele suchen, um in Bewegung zu bleiben. Ich radle gleich zu meiner Bank, nehme natürlich nicht die Filiale um die Ecke, sondern fahre ins Städtchen und besuche anschließend noch eine Freundin. Sie hat mich zu Tee und Streuselkuchen eingeladen, denn sie ist auch Rentnerin, allerdings schon seit einem Jahr und möchte mir Greenhorn bei der Übergangsphase helfen.

Praktischerweise gibt es vor der Bank eine Straßenlaterne, an die ich mein Fahrrad anketten kann. Ich habe mich an meinen Drahtesel seit zwanzig Jahren gewöhnt und würde ihn mir ungern klauen lassen, auch wenn mit steigendem Alter die Chancen sinken, dass ihn jemand haben will.

Wieviel Geld soll ich abheben? Ich entscheide mich für 400 Euro. Das dürfte fürs erste reichen. Ich schaue mich im Schalterraum um. Keine Menschenseele. Vielleicht halten die Menschen alle Siesta? Dann verstaue ich mein Portemonnaie in meinem Rucksack und gehe zurück zu meinem Oldtimer. Ich blinzele gegen die Sonne und suche nach meiner Sonnenbrille. Plötzlich sehe ich ein Gesicht vor mir auftauchen und ehe ich etwas begreife, reißt der Mensch mir den Rucksack aus der Hand und haut ab.

He! Denke ich, aber dann wird mir klar, dass es hier nicht ums Denken geht, sondern ums schnelle Handeln, genauer gesagt ums Laufen. Meine durchtrainierten, wenn auch nicht mehr jungen Beine setzen sich in Bewegung und ich komme dem unverschämten Dieb immer näher. Gleich habe ich ihn. Gleich muss er mir meinen Rucksack samt Inhalt zurückgeben. Da dreht sich der Bursche um. Er sieht gar nicht so schlecht aus, ist das letzte, was ich denke. Dann geht alles sehr schnell. Mit seiner flachen Hand schlägt er mich heftig mitten in mein Gesicht. Ich verliere das Gleichgewicht und gehe zu Boden. Der Unterarm, auf den ich mich beim Aufrichten stützen will, durchfährt ein brutaler Schmerz. Die warme Flüssigkeit, die über mein Gesicht rieselt, muss wohl Blut sein. Kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich wische es mit dem Ellenbogen weg. Mühevoll versuche ich, wieder auf die Knie zu kommen. Zum ersten Mal fühle ich mich alt und wackelig. Kein Mensch weit und breit. Das gibt es doch gar nicht. Ich brauche mein Handy, um meine Freundin anzurufen.

Endlich nähert sich mir ein Passant. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragt ein freundlicher junger Mann. Aber nach den Erfahrungen von eben winke ich ab. „Nur Nasenbluten. Hätten Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?“  Er reicht es mir und ich überlege, ob ich die Telefonnummer meiner Freundin auswendig weiß, während ich sein Handy in der Hosentasche aufblitzen sehe. Nein, ich kriege sie nicht mehr zusammen. Der Fluch der Technik, die alles speichert, nur nichts im Kopf. Ich wanke zurück zu meinem Fahrrad. Zum Glück hatte ich es schon aufgeschlossen, als ich die dämliche Sonnenbrille suchte, die nun unversehrt auf dem Boden liegt. Die rechte Hand schmerzt empfindlich, doch es hilft alles nichts, ich muss nach Hause. Wie willst du in deine Wohnung ohne Schlüssel?

„Du dämlicher Dieb“, schimpfe ich laut. „Du hättest meine 400 Euro haben können, wenn du eine hungrige Familie zu ernähren hast, aber dass du mir mein Handy, meine Haustürschlüssel und meinen Ausweis geklaut hast, das verzeihe ich dir nie!“

Noch nie waren fünf Kilometer so elend lang, bis ich endlich vor der Haustüre meiner Freundin stehe.

 

„Wie siehst du denn aus?“

Der Blick meiner Freundin besagt, dass ich schon mal besser ausgesehen habe. Blut klebt an meinem himbeerfarbenen Blouson. Ton in Ton, könnte man sagen. Der rechte Arm hängt schlapp an meinem Körper, als habe er den Dienst gekündigt.

„Komm, setz dich!“

Meine Freundin führt mich zu ihrem heiligen Fernsehsessel, den eigentlich nur sie in Besitz nehmen darf. Kaum habe ich Platz genommen, fange ich an zu heulen. Es hört gar nicht mehr auf. Meine Freundin bringt mir ein Taschentuch.

„Erzähl, was ist passiert?“

„Du musst zur Polizei und zum Arzt. Ich überlege noch die Reihenfolge“, sagt meine Freundin, nachdem sie genug Information aus meinem holperigen Bericht gefiltert hat.

„Mir egal“, verkünde ich und meine, dass ich jetzt am liebsten in meinem Bett wäre und den Tag neu anfangen möchte.

Jutta entscheidet sich zuerst für den Arzt, der eine Fraktur in meinem Unterarm diagnostiziert.

„Eigentlich bin ich Privatpatientin“, nuschle ich, „aber im Augenblick bin ich ein No-Name. Mir haben sie alle Papiere geklaut.“

„Das kriegen wir schon hin. Machen Sie sich keine Sorgen!“ Der Mann in Weiß klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

Wenig später kriege ich eine Spritze. Als ich wieder aufwache, klebt ein Gips an meinem Unterarm.

„Schaffst du jetzt noch den Weg zur Polizei oder sollen wir das auf morgen verschieben?“

„Morgen!“, lächle ich schwach.

„Kein Problem. Du übernachtest bei mir!“, sagt Jutta.

Wo sonst? In meine Wohnung einzubrechen, das hat Zeit. Es könnte jedoch sein, dass der Dieb schneller ist, denke ich.

 

 

„Machen Sie sich keine Hoffnung! Die Täter solcher Straßenüberfälle kriegen wir in der Regel nicht.“

Und? Soll ich jetzt wieder gehen, Herr Oberwachtmeister?

„Ich möchte dennoch Anzeige erstatten“, knurre ich mein Gegenüber an. So wohl gerundet wie der ist, könnte er auch keinem Dieb hinterher spurten“, denke ich boshaft.

„Ihren Ausweis müssen Sie im Einwohnermeldeamt beantragen“, sagt Herr Schlaumeier. Meint der, ich sei auf den Kopf gefallen? Demonstrativ lege ich meinen Gipsarm auf den Schreibtisch.

„Können Sie das Protokoll mit links unterschreiben?“

„Werde ich wohl müssen“, blaffe ich zurück.

„Manchmal werfen die Diebe die Papiere auch weg. Vielleicht haben Sie Glück“, versucht mich der Polizist aufzumuntern.

Na klar. Ich glaube auch an den Weihnachtsmann.

 

Jutta organisiert jemanden, der ein neues Schloss in meiner Wohnungshaustür einbaut. Bei meiner Bank lasse ich mein Konto sperren und beantrage eine neue Kreditkarte. Solange kann ich mit meinem Perso anheben. Blöd. Den habe ich auch nicht. Jutta gewährt mir ein zinsfreies Darlehen. Wofür hat man Freunde! Was macht man, wenn man keine hat? Darüber will ich lieber nicht nachdenken.

Ich fürchte mich ein wenig vor der ersten Nacht in meinen vier Wänden. „Da kann nichts passieren. Der Dieb kann nicht mehr in deine Wohnung“, tröstet mich Jutta. „Aber wenn du willst, komme ich mit.“ Ich nicke. Gemeinsam inspizieren wir meine Bude, ob der Dieb sich an meinen Sachen vergriffen hat. Es sieht alles so aus, wie ich es vor zwei Tagen verlassen habe.

 

Das Ticken der Wohnzimmeruhr dringt in mein Schlafzimmer ein. War es immer schon so laut? Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos malen Fratzen an die Wände. Auf der Straße höre ich Hilferufe oder sind es Katzen, die so schreien? Im Gemäuer knackt es.  Versucht da jemand, sich Zutritt in meine Wohnung zu verschaffen? Ich wälze mich in meinem Bett von einer Seite zu anderen, was mit Gipsarm nur begrenzt gut klappt. Es hat keinen Sinn. Ich kann nicht schlafen. So stehe ich auf und gehe in die Küche, um mir etwas zum Trinken zu holen. Ein Glas Rotwein kann nicht schaden.

Im September wollte ich eine Radtour entlang der Donau machen. Daraus wird erst mal nichts. Jutta hat mir einen Heimtrainer empfohlen, solange ich mit meinem Gipsarm gehandicapt bin. Aber das ist nicht dasselbe. Ich liebe den frischen Wind, den Rausch der Geschwindigkeit, die schöne Landschaft.

Du bist nicht die Erste und auch nicht die Letzte, der so etwas passiert. Also reiß dich am Riemen! Du brauchst etwas Geduld. Alles im Leben heilt wie dein Bruch auch.

 

Was will dieser dickbäuchige Polizist von mir? Wie ist er in meine Wohnung gekommen? Er wedelt mit einem Ausweis vor meiner Nase herum. Meinem Ausweis!!

„Sie haben einen Mord begangen. Hier ist der Beweis! Er lag neben dem Opfer, ein armes, unschuldiges, junges Mädchen. Schämen Sie sich! Ich nehme Sie hiermit fest.“

Mit seinen Wurstfingern umfasst er mein Handgelenk und zerrt daran.

„Kerstin! Wach auf! Du kannst doch nicht den ganzen Tag hier herumliegen. Du musst mal wieder unter Leute gehen.“

„Ich kann nicht, Jutta. Die Angst sitzt wie Stacheln in meinem Fleisch.“

V2