Von Ingo Pietsch

Der improvisierte Verhörraum war nicht viel größer als eine Besenkammer.

Darin passten gerade mal ein Tisch und zwei Stühle.

Gerson Hartmeyer starrte auf die nackte Wand vor sich. 

Es gab keine Fenster und keine Lüftung.

Es war sehr stickig und Gerson kaute abwechselnd an seinen Fingernägeln oder fuhr sich mit der Hand über sein raues Kinn.

Er arbeitete für eine Schweizer Bank und trug einen für das Bankwesen typischen, maßgeschneiderten grauen Anzug, an dem er inzwischen die Krawatte gelockert hatte, weil es einfach zu heiß war.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass er schon eine halbe Stunde mit seinen Beinen halb eingeklemmt am Tisch hockte.

Der Sicherheitsdienst hatte ihn nach dem Vorfall sofort in Gewahrsam genommen und hier eingesperrt.

Der Tür ging auf und sein Vorgesetzter nahm vor ihm Platz.

Dem Mann war nicht anzusehen, wie alt er wirklich war. Er hatte graue Haare an den Schläfen, aber keine Falten und wirkte so um die Mitte dreißig, obwohl er bestimmt mindestens doppelt so alt war.

„Sie sind Verwalter 2. Klasse?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.

Gerson nickte kurz.

„Sie gehen mit unserem Klienten zu den Schließfächern und übergeben ihnen nach Handabdruck zweier Personen die Kassetten mit Wertsachen. Erklären Sie mir jetzt genau, wie der Dieb sich Zugang verschaffen konnte.“

Gerson schluckte: „Ich machte Mittagspause in der großen Halle. Wissen Sie, ich mag die angenehme Atmosphäre der Parkanlage, die ist so beruhigend. Obwohl wir sehr tief unter der Erde sind, kann ich mich dort richtig entspannen. Natürlich nur, wenn dort keine Kunden sind“, fügte er schnell hinzu.

Der Vorgesetzte zeigte keinerlei Regung.

„Ich träumte vor mich hin und sah vor mir auf dem Boden das projizierte Motto unserer Bank „Zeit ist Geld – Geld ist Zeit“ vorbeilaufen, als der Dieb plötzlich vor mir stand.“

„Beschreiben Sie ihn mir.“

„Bitte lachen Sie nicht. Er sah genauso aus wie der Schauspieler Tom Cruise. Er sprach auch mit der gleichen Stimme.“

Der Vorgesetzte blieb Ernst. „Weiter.“

„Natürlich war es eine Maske oder so. Auf jeden Fall blickte er auf seine Uhr und meinte: „In fünf Minuten habe ich meine Kassette oder Sie sind tot.“

„Und Sie haben der Anweisung einfach so Folge geleistet?“, wollte der Vorgesetzte wissen.

„Erst nicht. Aber Mr. Cruise zog eine Handfeuerwaffe mit Schalldämpfer und zielte auf mein Gesicht. Ich meinte: „Wenn Sie mich umbringen, müssen Sie meine Leiche bis zu den Tresorräumen zerren, und das schaffen Sie nicht in 5 Minuten.“ Ich lächelte ihn an und er zog ein Laserskalpell aus dem Innenfutter seiner Jacke, welcher er demonstrativ aktivierte. Er hätte sich so oder so Zugang verschafft.“

„Das sei mal dahin gestellt. Bitte fahren Sie fort.“

„Wir haben ja sehr viel prominente Kundschaft aus Politik, Wirtschaft und High Society. Aber nervös war ich nur wegen der Waffe.“

Der Vorgesetzte zog eine Augenbraue hoch.

„Als wir an den Schließfächern ankamen, wollte ich den verdeckten Alarm auslösen. Doch Tom Cruise schlug meine Hand vom Schalter weg, als wüsste er über alle Sicherheitsmaßnahmen Bescheid. Er nannte mir die Schließfachnummer und legte seine Hand auf den Scanner. Das Gerät identifizierte ihn als irgendeinen Prinzen aus Persien. Er wedelte mit seiner Waffe und ich tat es ihm gleich und legte meine Hand zur Identifikation auf das Panel. Er entnahm die Kassette und legte sie auf den Boden. Ständig blickte er auf seine Uhr. Während er die Kassette öffnete, wollte ich mich gerade davonmachen, um den Sicherheitsdienst zu rufen, als er den Kopf schüttelte und wieder mit der Waffe wedelte.“

„Haben Sie den Wert des Inhaltes erkennen können?“, fragte der Vorgesetzte eindringlich.

Gerson wusste, worauf er hinaus wollte. Diese Bank produzierte Zeit. Lebenszeit. Abgefüllt in kleine Flakons. Tage, Wochen, Jahre. Je nachdem, was die Kundschaft auszugeben bereit war. Und Zeit war nicht billig.

„In der Kassette war keine Zeit. Darin befand sich eine Sanduhr.“

„Beschreiben Sie sie.“

Gerson hielt die Hand über den Tisch. „Etwa so hoch. Sehr alt, grob verarbeitet, fast blindes Glas. Tom Cruise nahm sie aus der Polsterung und drehte sie um. Das merkwürdige dabei war, das der Sand von unten nach oben rieselte.“

Der Vorgesetzte lehnte sich soweit zurück wie die Enge des Raumes es zuließ.

„Als die Sanduhr durchgelaufen war, saß ich plötzlich wieder in der großen Halle mit meinem Mittagessen und Tom Cruise war verschwunden.“

„Welche Schließfachnummer?“, fragte der Vorgesetzte ungeduldig.

„1138“, stotterte Gerson.

Sofort begann draußen vor der Tür jemand zu laufen und kam kurz darauf wieder.

Die Spannung und Stille in dem Raum war nervenzerreißend.

Die Tür öffnete sich und ein Uniformierter spähte herein und schüttelte den Kopf.

Der Vorgesetzte stand auf und zog sein Jackett gerade.

Gerson sah zu ihm auf: „Wenn diese Uhr die Zeit zurückdreht, dann müsste sie sich doch eigentlich noch in der Kassette befinden, weil …“

„Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie die Zeit funktioniert. Aber das werden Sie bald herausfinden. Abschließen und Schlüssel wegwerfen“, befahl er dem Wachposten.

Gerson hörte noch seinen Vorgesetzten sagen: „Ja Sir, wir haben hier ein riesengroßes Problem. Aber der Schuldige wird entsprechend bestraft.“

Gerson tigerte in der kleinen Kammer hin und her, als die Decke zur Seite fuhr und ein greller Lichtschein den Raum flutete. Gerson begann sich langsam aufzulösen. Er spürte keinen Schmerz, hörte einfach zu existieren auf. Er hatte nicht gewusst, woraus die Lebenszeit gewonnen wurde, aber jetzt wurde es ihm klar …