Von Marco A. Rauch

„Jaaa“, schreie ich und jubele ihm zu. Die Faust auf den Kopf, dem Nächsten mit der flachen Hand eine gekachelt, dass er sich dreht wie ein Brummkreisel. Der bärtige Riese wäre mein Traumvater. Meinen eigenen habe ich schon früh verloren, ich erinnere mich kaum an ihn. Aber Bud, er ist groß, kräftig, kinderlieb und immer geradeaus. Er lässt sich nie einschüchtern, lässt sich nie unterkriegen und hat immer eine saftige Antwort auf unbequeme Fragen parat. Wer was von ihm braucht, kann immer mit seiner Hilfe rechnen. Aber den Halunken, denen macht er Beine. Gott, wie gerne wäre ich so wie er. Egal ob mit Faust, Hand oder Mund: Dieser Kerl ist einfach cool. Ich erinnere mich, wie Frank mich damals nach der Schule vermöbelt hat. Er war viel größer als ich und zwei Klassen höher. Immer wieder schlug er mit der flachen Hand auf mich ein und schrie lachend: „Mädchen!“ Damals hätte ich Bud gut gebrauchen können, ich hatte keine Chance. Als er von mir abließ, fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause, weinend und beschämt, weil die anderen nur außenrum gestanden und gelacht hatten. Ich erschauere bei den Erinnerungen, eine Träne rinnt meine Wange hinab, hält kurz inne, tropft auf meine Hand. Dort hinterlässt sie ein feuchtwarmes Mal. Das andere Auge folgt ungefragt. Ich spüre die Wut in meinem Körper hämmern und bohren beim Versuch, alles Gute zu zerschlagen. Diese verzweifelte Hilflosigkeit über Umstände, an die ich mich lange nicht gewöhnen konnte und es immer noch nicht will. Ich habe diese Filme immer geliebt, aber manchmal, an Tagen wie heute, wünschte ich, die ganze Welt würde zerbersten. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach aufstehen und alles in Stücke reißen. Ein paar Minuten sehe ich dem Film noch zu, teilnahmslos und in Gedanken. Als er aus ist, rufe ich nach Lina.

„Markus, ich komme. Ist der Film aus? Magst du ins Bett?“ Sie sieht mich an, lächelt und streichelt mit ihrer Hand über meine Wange. Ein kleines Lächeln zieht meine Mundwinkel in Richtung Ohren. Nicht viel, aber ich spüre die Wärme ihrer Hand und die mitfühlende Hilfsbereitschaft, die sie mir entgegenbringt. Lina ist eine von den Guten. Eine von den Menschen, dir mit ihren Händen Gutes tun. Nicht so wie Frank, der seine Hand nur dazu gebraucht hat, um anderen weh zu tun.

„Hast du geweint?“ Sie streicht die feuchte Stelle auf meiner Hand trocken, sieht mich mit ihren liebevollen grünen Augen an und streichelt erneut über meine Wange. „Na komm, ich bringe dich ins Bett.“ Ich spüre den Zwiespalt in mir. Lähmende Trauer, Träume, die ich als Kind hatte, gepaart mit rastloser Wut. Nach dem Unrecht von Frank hatte ich mir vorgenommen: nie wieder. Ich wollte einen Selbstverteidigungskurs machen. Während ich auf dem Fahrrad saß, weinend und wütend, beschämt und völlig durcheinander, war dieser eine Gedanke im Hintergrund so klar und präsent wie frisches Quellwasser in den Alpen, das ich als Kind bei unseren Wanderungen hoch oben in den Bergen über meine Hände fließen spürte. Ich wusste, ich würde es tun. Ich wusste, ich würde so wie Bud Spencer werden. Mutig, stark, aber immer fair.

Lina beginnt mich auszuziehen. Erst den Pulli, dann das T-Shirt. Sie wäscht mich unter den Achseln, putzt mir die Zähne und streift mir den Schlafanzug über den Kopf. Danach schiebt sie mich ins Schlafzimmer, hebt mich mit dem Lifter aufs Bett. Dort dreht sie mich ein paarmal nach links und rechts und zieht dabei die Hose runter. Auf dem selben Weg bringt sie mich routiniert in meine Schlafanzughose. Sie deckt mich zu und setzt sich aufs Bett, so wie sie es immer macht. Meine gute Fee. Lina ist eine von mehreren Pflegekräften, die sich in drei Schichten um mich kümmern. Alle vom Pflegedienst sind supernett, aber Lina ist besonders. Sie ist herzlich und natürlich. Bei ihr habe ich das Gefühl, als würde sie wirklich verstehen, wie es mir geht.

„Markus, warum schaust du dir diese Filme an, wenn du weißt, sie tun dir nicht gut?“ Sie betrachtet mich besorgt, aber auch mit ganz viel Wärme in den Augen. Die roten Haare hängen ihr bis über die Schultern, schimmern im Licht. Ich sehe die vielen Sommersprossen, die mich immer wieder an das Sams erinnern. Ihr Anblick ist mir so vertraut, dass ich kurz überlege, ob ich das gut finde. „Es ist nicht immer so, nur manchmal, wenn ich sehe, was hätte werden können und was ist, dann…“

„Ich weiß, mein Guter. Ich weiß.“ Wieder streichelt sie mit der flachen Hand über meine Wange. Dieses gute Gefühl, wenn ich die Wärme auf meiner Haut spüre, erinnert mich an meine Mutter. Es tröstet mich, zeigt mir aber auch eindrücklich, was war und was ist.

„Du kannst nichts dafür, Markus. Es war nicht deine Schuld.“ Ihre Stimme klingt bestimmt, überzeugt. In ihr schwingt Gewissheit, Mitgefühl. Doch heute reißen diese Worte eine Wunde auf wie ein zu früh entferntes Pflaster.

Schmerz und Trauer stoßen hervor, heimtückisch wie ein Springteufel. Im Weinen verdunkelt sich der Ton meiner Stimme, bis ich schreie, verzweifelt und voll purem Zorn. Und auf dem Gipfel der Entladung, entsteige ich meiner Hülle, verforme mich zu einem Urvieh-großen Monster, um die Erde mit einem Ruck zu zerreißen. Wie enthemmt schreit mein Weinen die Welt zu Gericht und selbst Lina entgeht diese Vorladung nicht.

Sie tut etwas, das sie noch nie getan hat: Sie richtet mich auf und nimmt mich in den Arm. Die warmen Hände an meinem Rücken lassen mein letztes bisschen Haltung zerfließen wie eine Eisskulptur im Wüstenwind und was zurückbleibt, war einst mühsam errichtet. Immer schneller jagt es mich durch die Irrgänge unverheilter Wunden auf der Suche nach dem Fehler, dessen Finden ungeschehen macht. Endlos lange kommt es mir vor und meine Stimme quält sich abwechselnd von Zornesschrei zu hoffnungslosem Winseln. Irgendwann hänge ich in ihren Armen, das Kinn auf ihrer Schulter und starre still vor mich hin. Ganz sanft legt sie ihre Hände auf meinen Kopf, auf die Schulter und lässt mich zurück aufs Bett sinken. In ihren Augen sehe ich so viel Liebe und Verständnis, aber sie hat nicht geweint. Nicht eine Träne. Sie ist wirklich eine von den Guten!

„Lina, es tut mir leid, du weißt, ich mache das normalerweise nicht…“

„Ist schon ok, Markus. Ich weiß, welcher Tag heute ist.“ In ihren Augen sehe ich Verständnis, aber was meint sie mit …?

„Heute ist der 21. September.“ Sie sieht mich an, fragend. Auf einmal verstehe ich. Deswegen.

„Du hast gar nicht dran gedacht?“

Ich schüttele meinen Kopf, erinnere mich, wie es letztes Jahr war, und wundere mich. Es ist jedes Jahr gleich. Nur diesmal habe ich gar nicht bewusst …

„Heute vor fünf Jahren ist es passiert. Wir haben oft darüber geredet und ich habe es nicht vergessen.“ Sie wirkt überrascht.

„Die letzten Tage habe ich schon gespürt, dass es mir schlechter ging. Aber heute morgen ging es mir ganz normal.“ Ich sehe sie an und bin selbst etwas überrascht.

„Magst du darüber reden?“ Ihre Hand legt sich auf meine und in ihren Augen sehe ich ehrliche Anteilnahme. Das macht es mir nicht leichter. Ich schlucke verkrampft und beginne zu erzählen, was wir beide schon wissen. „Ich war so wütend und durcheinander. Ich bin mit dem Fahrrad nach Hause gefahren, aber kam nie dort an. Aus der Seitenstraße kam ein Auto. Es packte mich und wurde erst durch einen parkenden Wagen gestoppt. Dann weiß ich erst, dass ich in der Klinik aufgewacht bin. Ich konnte nichts fühlen und bin ständig wieder eingeschlafen. Erst später, als meine Dosierung herabgesetzt wurde, merkte ich, dass ich gelähmt bin.“

„Damals warst du 13, noch ein Kind. Du hast nichts falsch gemacht und du hättest nichts anderes tun können.“ Sie drückt meine Hand fester und sieht mich bekräftigend an. Ein Teil von mir weiß, dass sie recht hat. Aber ein anderer glaubt, ich hätte besser achtgeben müssen.

„Auch wenn das für dich nicht tröstlich klingt, du hattest Glück, dass der zweite Wagen seitlich in den ersten gekracht ist und ihn von dir weggedrückt hat. Wärst du noch länger eingeklemmt gewesen …“ Ihre Stimme zittert und nun läuft doch eine Träne aus ihrem Auge. So habe ich sie noch nie gesehen. Ich spüre, wie eine Träne meine Wange entlang zum Ohr läuft und ich erahne die Feder des Springteufels, wie sie leise knackt. Bitte sprich nicht weiter, bitte!

Sie streckt ihren Arm aus und zum ersten Mal zittert ihre Hand, während sie mir über die Wange streichelt. „Im ersten Wagen saß deine Mutter, Markus. Sie war nicht angeschnallt und hat den seitlichen Aufprall nicht überlebt. Im zweiten Wagen saß ich, auf dem Weg zu einem Patienten.“

 

***

 

20 Jahre später

Im Nachhinein betrachtet war dieser Tag heilsam für mich. Lina so zu sehen, hat etwas in mir ausgelöst und ich muss fast schmunzeln, wenn ich zurückdenke. Natürlich war sie immer an meiner Seite und ist es auch heute noch. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich entschuldigt hat, aber sie hat es nie ausgesprochen, bis zu diesem Tag. Für mich war dieser Tag und unser erstes gemeinsames Weinen ein Aufbruch. Auch wenn man es kaum glauben mag, Lina war immer schon stark wie eine Löwin und auch wenn das eine Phrase ist: Nie war sie so wahr. Ich begann zu schreiben. Dank moderner Software und Stimmerkennung brauchte ich dafür keine Hände. Mittlerweile habe ich 12 Romane geschrieben, 9 von ihnen wurden zu Bestsellern. Ist doch ein guter Schnitt, oder? Ganz am Ende ist da noch etwas, das ich nie vergessen werde und das mir mit Sicherheit, wenn auch unbewusst, geholfen hat. Neben Lina war es Bud Spencer, der mit seiner ganz eigenen, geradlinigen Art dazu beigetragen hat, dass ich heute bin, wer ich bin. Denn bei allem, was er getan hat, hat er mir, bewusst oder unbewusst, vor allem eines vermittelt: Gib niemals auf! Ich hatte nie die Chance, mich an Frank zu rächen, aber weißt du was? Mit der flachen Hand kann man auch Gutes tun, das hat Bud mir gezeigt und Lina mich spüren lassen.

  

Im Gedenken an Carlo Pedersoli – Grazie amico mio.

 

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