Von Karolin Krause

Viele wissen es nicht, aber Neunjährige sind nicht zu unterschätzen.

Gewitzt und nach Anerkennung lechzend, machen sie sich auf den Vormarsch in die Vorpubertät. Doch bevor sie abtauchen in jugendliche Gleichgültigkeit, innerhalb derer sich die meisten von ihnen ewig suchen und dabei immer wieder aufs Neue verloren gehen, scheinen sie mit neun überaus identitätskrisenstiftend ihre Rolle gefunden zu haben. Noch vor wenigen Jahren die Verwandtschaft mit ihrem kindlich, ehrlichem Wesen verführt, sind sie nun bestrebt alle schonungslos hops zu nehmen. Die Mutter, die zärtlich den Schmerz des Trittes aus der Gebärmutter heraus über den Babybauch wegstreichelte. Den Vater, der vorsichtig zum Bäuerchen auf den Rücken des Kindes klopfte. Den Opa, der sich immer auf die Schenkel schlug und mit großer Geste den Winzling mit seinen braunen Knopfaugen zum Lachen brachte. Die Oma, deren liebliche Hand das kleine Köpfchen streichelte. Ja selbst den Patenonkel, dessen auserwählte Hand, die hinter seinem Rücken zum Öffnen hervorkam, Süßes als Schatz offenbarte. Ja, unzählige 32 GB-Speicherkarten voller Kindheitsfotos mit Kinderaugen, die noch zu Verwandten und Erzieherinnen, ja sogar zum Weihnachtsmann aufblickten.

So versuchte er es auch bei mir.
„Wollen wir wetten, dass ich es schaffe, deine Hand umzudrehen, ohne sie zu berühren!?“, forderte er mich mit blitzenden Augen heraus.
Zugegeben, ich dachte nicht lange darüber nach.
Es kam mir nicht so vor, dass ich ernsthaft länger hätte darüber sinnieren müssen.
Das ist im Übrigen das Leid eines Pädagogen. Permanent steckt man fest in dem von  Kindern angelegten Sumpf der Fangfragen. Wie soll man da eine ehrliche Haltung nach außen tragen? „Nee, schaffste nicht, es sei denn, du wendest einen ganz billigen Trick an, aber das wäre ja wie kurbeln beim Krökeln –  bilde dir dann mal nichts darauf ein, falls es klappen sollte“, könnte man antworten, wäre man schlauer gewesen und hätte Maschinenbau studiert oder so.
„Wetten, dass ich es schaffe, deine Hand umzudrehen, ohne sie zu berühren!? Streck mal deine Hand aus!“, instruiert mich der Neunjährige. Pädagogisch neugierig und wohlwollend komme ich der Aufforderung nach. „Äh, nee anders rum“, erwiderte der Neunjährige.  … Mist!  Und da triumphieren auch schon seine braunen Augen über den winzigen Moment meiner gedanklichen Steppe. „Der war nicht schlecht!“, entgegnete ich augenscheinlich beeindruckt, wenn auch innerlich fassungslos.  „Haha, siehste!“, bejubelte er sich selbst. „Umgedreht, ohne sie zu berühren …!“ 

 

Version 3 (26.08.21)