Von Björn D. Neumann

Ein schwarzer BMW raste auf den Hof der Krieg KG in Dortmund. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen auf dem Parkplatz zum Stehen. Kieselsteine stoben auf. Jeder Angestellte der Firma wusste spätestens ab diesem Zeitpunkt, dass sich die Gewitterwolken dräuend am Himmel auftürmten und dass, obwohl Freitag, es noch ein langer Weg bis zum Wochenende war.

Eva Maria Krieg, kurz EMK genannt, schritt –  trotz ihrer 85 Jahre – resolut auf die Eingangstür des neo-klassizistischen Firmengebäudes zu. Noch ehe der Pförtner die Tür aufhalten konnte, hatte sie diese bereits schwungvoll aufgestoßen.  

„Guten Morgen, Frau Krieg.“ Ernst Brockmann stand stramm in seiner Dienstuniform, als wolle er einen 4-Sterne-General begrüßen.

„Ja, ja. Ihnen auch.“ Als ob sie eine lästige Fliege vertreiben wollte, wedelte sie mit ihrer Linken Richtung des alten Brockmann. „Ist Frau Weber schon im Haus?“

„Ich bedaure, bisher noch nicht.“

Frau Weber, ihrerseits auch schon an die 80 Jahre, kam trotz ihrer Rente immer noch wöchentlich in die Firma, um sich um die private Buchhaltung der Frau Krieg zu kümmern. Da dies auf 400 €- Basis geschah, war es jedoch mehr eine Gefälligkeit und eine Möglichkeit zum Schwätzchen mit alten Kollegen, als dass damit die Rente nennenswert aufgebessert wurde. So klackerte einmal wöchentlich die letzte mechanische Schreibmaschine der Firma und erinnerte an die Zeiten vor EDV und Digitalisierung. Zusammen mit der wabernden Chanel-No.5-Wolke, die EMK im gesamten Gebäude verströmte, ein untrügliches Warnzeichen dafür, sein Büro nicht unnötig zu verlassen und sich in Gefahr zu begeben.

Ohne weitere Erklärungen erklomm EMK die geschwungene Treppe mit dem Messinggeländer zur ersten, der Chef-Etage. Könnte die Bronze-Büste ihres verstorbenen Mannes, Friedrich Georg Krieg, genannt FGK, die im Foyer stand, mit dem Kopf schütteln, er wäre schon vor Zeiten von der Säule aus Plexiglas gefallen. So aber blickten die leeren Augen des Firmengründers in die Ferne. In die Weiten einer besseren Vergangenheit, als das Familien-Unternehmen auch noch familiär geführt wurde und nicht den Charme eines nordkoreanischen Arbeitslagers verströmte.

Oben angekommen, kam Frau Karl, die Sekretärin ihres Sohnes, Friedrich Ludwig Krieg, kurz FLK, gerade mit einer Kanne frischen Kaffees aus der Teeküche.

„Guten Morgen, Frau Krieg.“

„Morgen, wo steckt Frau Weber?“

„Sie hat gerade angerufen, dass sich ihr Taxi verspätet.“

„Taxi, Taxi. Warum macht sie keinen Führerschein? Zeit genug hat sie doch jetzt in der Rente.“ Mit erhobenem Finger dozierte sie: „Man wird alt wie eine Kuh und lernt immer noch dazu.“

Gekonnt überhörte Frau Karl die Bemerkung und verkniff sich ihren bissigen Kommentar. Mit den Jahren eignete man sich in der Krieg KG ein dickes Fell an und reagierte mit einem imaginären Augenverdrehen. Das war gut für den inneren Frieden und vor allem für den Arbeitsplatz. Stattdessen deutete sie auf die Kaffeekanne in ihrer Hand. „Darf ich im Besprechungsraum 1 servieren?“

„Ja. Und dann holen Sie mir Direktor Wilhelm, Herrn Claas, Herrn Ritter und Herrn Willmann. Es ist äußerst dringend.“

Frau Karl machte große Augen. Nicht, dass sie EMKs Befehlston nicht gewohnt wäre, aber das auf einen Schlag der halbe Führungskreis des Unternehmens, bestehend aus geschäftsführendem Direktor, Einkaufsleiter, Finanzchef und Qualitätsmanager einberufen wurde, verhieß nichts Gutes.

„Herr Ritter hat Urlaub.“

„Ist er verreist?“

„Ich glaube nicht. Er wollte mit seiner Frau die Weihnachtstage zu Hause verbringen.“

„Na schön, dann rufen Sie ihn auf dem Dienst-Handy an. In einer halben Stunde ist Meeting. Hopphopp.“

Die Wartezeit verkürzte sich EMK damit, aus ihrem Louis-Vuitton-Täschchen Rechnungen und Belege der letzten Woche zu kramen, die ihr guter Geist, Frau Weber, für sie bearbeiten würde.

Nach und nach trafen die Manager im Besprechungsraum ein und nahmen nach einer knappen Begrüßung, am gläsernen Konferenztisch in den Designer-Bürostühlen Platz. Als letzter kam Herr Ritter, mit fünfminütiger Verspätung, keuchend in den Raum gestürmt.

„Sie sind zu spät!“

„Entschuldigung, ich war mit meiner Frau einkaufen. Da man mir sagte, es sei ein Notfall, habe ich sie an der Kasse stehen lassen und bin sofort herbei geeilt …“

„Papperlapapp“, unterbrach ihn EMK unwirsch. „Das Diensthandy haben Sie schließlich, um erreichbar zu sein. Jetzt setzen Sie sich endlich, damit wir anfangen können.“

Kaum hatte der Gescholtene Platz genommen, öffnete sich erneut die Tür. Ein pausbäckiger Kopf, fönfrisiert, mit akkurat sitzender Tolle, lugte in den Raum. „Herr Wilhelm, wir müssen noch über die Reduzierung der Personalkos…“ Noch ehe er den Satz beenden konnte, bemerkte FLK seine Mutter.

„Oh, Mutter …“

„Nicht jetzt Friedrich Ludwig. Wir haben hier wichtige Dinge zu besprechen.“

„Sicher, Mutter.“

So schnell, wie er erschienen war, verschwand auch wieder der Kopf des geschäftsführenden Gesellschafters und Sohns.

„Kommen wir nun zum Wesentlichen.“ Mit diesen Worten öffnete EMK ihre Handtasche und entnahm ihr einen kugelförmigen Gegenstand, der in ein Stofftaschentuch gewickelt war. Vorsichtig platzierte sie ihn, für alle gut sichtbar, auf dem Tisch. Gespannt sahen alle dabei zu, wie EMK das Objekt dramaturgisch gekonnt auspackte. Jeder Zipfel des Taschentuchs wurde mit Daumen und Zeigefinger akkurat ausgebreitet, bis das ominöse Ding für alle erkennbar auf dem viereckigen Tuch lag. Es war … ein Pfirsich.

Die Konferenzteilnehmer blickten sich verständnissuchend an, schauten aber nur in fragende Gesichter.

„Was sagen Sie dazu, meine Herren?“ unterbrach EMK die Stille.

„Nun, es ist ein Pfirsich?“ äußerte sich Direktor Wilhelm räuspernd als Erster.

„Er riecht auch sehr angenehm“, meldete sich nun Herr Claas hörbar schnüffelnd.

Herr Ritter betastete das Obst vorsichtig mit zwei Fingern und merkte zusätzlich an: „Fühlt sich auch noch sehr fest an.“

„Wollen oder können sie das nicht sehen?“ Ein runzliger Zeigefinger wies auf eine Stelle der Frucht.

„Ähm, was genau?“, fragte der Qualitätsbeauftragte Willmann.

„Da ist eine Druckstelle! Das sieht man doch wohl!“

Willmann nahm den Pfirsich in die Hand und führte ihn vor sein Gesicht. Er kniff angestrengt die Augen zusammen. Betrachtete das Corpus Delicti mit und ohne Brille und kam zu dem Ergebnis: „Ich kann nichts erkennen. Vielleicht ein kleiner Farbfehler in der Schale, aber auch nur einen My groß.“

„Das ist eine Druckstelle. Man hat mir angegammelte Ware geliefert!“ EMK war außer sich.

„Ich verstehe trotzdem nicht so ganz.“

„Ich erwarte, dass das reklamiert wird! Oder meinen Sie, ich schmeiße mein Geld zum Fenster hinaus?“

„Frau Krieg, da ist der Verwaltungsaufwand höher, als wenn wir einfach einen neuen Pfirsich kaufen. Schon allein die Fahrt zu Feinkost Blaumann nach Düsseldorf“, versuchte Direktor Wilhelm zu beschwichtigen.

„Es geht ums Prinzip. Feinkost Blaumann verdient sich eine goldene Nase an mir. Da erwarte ich Kulanz. Sonst ist die wöchentliche Champagner-Lieferung auch hinfällig“, echauffierte sich EMK mit fuchtelndem Zeigefinger. „Und die Herren werden ja wohl nicht schlecht dafür bezahlt, mir diesen kleinen Gefallen zu tun.“

In diesem Moment betrat Frau Karl das Zimmer. „Frau Weber wäre jetzt da.“

„Das wurde auch Zeit. Meine Herren, ich erwarte Ergebnisse.“ Damit ergriff sie mit einer Hand die teure Tasche, mit der anderen ihre Papiere. Dann drehte sie sich noch einmal um und ließ verlauten: „Nächsten Monat bin ich in den Staaten. Überlegen Sie schon einmal, wer sich in meiner Abwesenheit ums Haus kümmert und die Blumen gießt.“ Mit diesen Worten verließ sie grußlos das Konferenzzimmer.

Kollektiv atmete die Managerrunde auf.

„Was tun wir jetzt?“, wollte Claas wissen.

„Was sollen wir tun? Natürlich einen neuen Pfirsich liefern. Allerdings nicht von Blaumann aus Düsseldorf.“

„Sondern?“, fragte Herr Willmann.

„Herr Ritter, Sie haben ohnehin frei. Sie holen ihre Frau jetzt vom Einkauf ab und besorgen diesen gottverdammten Pfirsich und bringen ihn EMK.“

„Aber Herr Direktor, ich habe frei.“

„Mein lieber Ritter. Wenn EMK gute Laune hat, hat FLK gute Laune, wenn FLK gute hat, habe ich sie auch und somit wir alle.“ Mit diesen Worten biss er herzhaft in den Pfirsich und verließ ebenfalls den Raum.

Kopfschüttelnd und konsterniert stand Finanzchef Ritter da, wie ein begossener Pudel. Claas klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter: „Wenigstens ist der Spuk für diese Woche vorbei.“

„Bis nächsten Freitag, dann geht es wieder von vorne los …“ seufzte Ritter.

Als am Mittag der schwarze BMW frisch gewaschen und betankt vom Hof brauste und sich der Chanel-Nr.5-Nebel langsam wieder verzog, konnten sich dann endlich alle aufs Wochenende freuen.

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