Von Ina Rieder

 

Seit ein paar Wochen muss ich ständig an Liam denken. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten. Ich würde am liebsten jede freie Minute mit ihm verbringen. Ich frage mich nur, wer diese Trulla mit den Glupschaugen ist, die ihn neuerdings von der Schule abholt.

Er sitzt vor mir und tuschelt mit seinem besten Freund. Unsere Mathelehrerin erklärt die Formel zur Berechnung von Trapezen. Mein Blick schweift von der Tafel ab und bleibt an Liams trapezförmigem Oberkörper haften. Übrigens das einzige „Viereck“ mit zwei parallelen Seiten, das mich derzeit wirklich interessiert. Seine breiten Schultern gefallen mir. Sie passen zu seinem Charakter. Er, der sich gerne für die Schwachen in der Klasse einsetzt und selten einer Konfrontation ausweicht.

Was die beiden wohl zu bequatschen haben? Hoffentlich kommt Liam heute auch zum Sommerfest! Liam und Lea, Lea und Liam …

Ich beuge mich vor, in der Hoffnung Wortfetzen auffangen zu können. Mehr als ein leises Murmeln dringt leider nicht an mein Ohr. Dafür rieche ich ihn umso besser. Er duftet nach süßen Früchten. Wie diese Multivitaminbonbons, die ich so gerne mag. Ich schließe meine Augen und inhaliere einen Hauch „Liam“.

Wie wohl seine Küsse schmecken?

In meinem Bauch kribbelt es wie süßsaures Brausepulver aus Kindertagen. Ein albernes Kichern, das sich langsam in ein Gackern verwandelt, dringt zu mir durch und katapultiert mich zurück in die Gegenwart.

„Lea, schläfst du?“ Frau Lorenz` tönende Stimme lässt meine Lider nach oben schnellen.

Augenblicklich versinke ich in Liams ozeanblauen Augen. Er hat sich, wie all die anderen Mitschüler, zu mir umgedreht. Er grinst mich breit an. Seine weißen Zähne strahlen schöner als die Sommersonne im Zenit.

„Lea hat wohl wieder von Liam geträumt?“, höre ich irgendwo aus den hinteren Reihen und bemerke, wie meine Wangen heiß werden.

Ist es wirklich so offensichtlich? Jetzt bloß nicht rot werden! Mist, zu spät.

Mein Kopf senkt sich Richtung Schulbank und ich starre in mein Matheheft.

„Mach dir nichts draus, Lea! Sabine soll sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.“ Liam findet wieder einmal die richtigen Worte.

„Liam, Lea! Schluss jetzt!“

Die Schulglocke läutet. Wie auf Kommando ertönt hektisches Stühlerücken und fröhliches Stimmengewirr schwirrt durch die Klasse. Liam steht plötzlich vor mir. Meine Hände sind feucht und mein Herz rast, als hätte ich soeben einen Sprint aus dem Stegreif hinter mich gebracht.

„Sehen wir uns später beim Sommerfest?“

Er sieht mich erwartungsvoll an und ich bringe keinen Laut hervor. Dabei bin ich diejenige, die ohne Punkt und Komma plaudern kann und immer einen kecken Spruch auf den Lippen hat. Meine Ohnmacht in seiner Nähe ärgert mich. Zum Glück bringe ich wenigsten ein knappes Nicken zustande.

„Dann bis später!“ Liam dreht sich um und schlendert zu seinem besten Freund, der an der Türe auf ihn wartet.

„Warum grinst du denn so dämlich?“ Susi stupst mich in die Hüfte und ich hüpfe in die Luft.

„Mann, erschreck mich doch nicht so!“

Wir reihen uns in den Schülerstrom, der uns Richtung Ausgang treibt, ein.

„Guck mal. Da ist sie wieder!“

Susi deutet mit dem Zeigefinger nach vorne. Gegenüber auf der anderen Straßenseite läuft diese Trulla mit den Froschaugen auf Liam zu. Wie selbstverständlich legt sie ihren Arm um ihn. Sie gehen gemeinsam fort. Ich höre sein Lachen und ihr albernes Glucksen. Es ziept unangenehm in meiner Magengegend, als würde jemand an meinen Eingeweiden zerren.

„Geschmack hat er ja. Was würde ich für diese makellosen Beine geben.“

„So toll sind die jetzt auch wieder nicht! Hast du ihre riesigen Augen gesehen?“

„Da ist wohl jemand eifersüchtig!“

„Nee! Liam hat mich eben gefragt, ob ich zum Sommerfest komme. Das hat doch etwas zu bedeuten, oder nicht?“

„Vermutlich. Vielleicht wollte er aber nur höflich sein.“

Kannst du nicht einmal auf meiner Seite sein?

„Na klar! Nur weil er dich damals abgewiesen hat, kannst du dir nicht vorstellen, dass er an mir interessiert sein könnte!“ Mein Zorn brodelt wie ein Giftsüppchen vor sich hin. Ich dreh mich um und lasse Susi einfach stehen.

***

Seltsam, Papas Auto steht in der Auffahrt. Vor siebzehn Uhr ist er doch nie zu Hause! Ein eigenartiges, Gänsehaut ähnliches Gefühl stülpt sich wie eine zu enge Hülle über mich. Schicksalhaft schiebt sich auch noch eine fette Wolke vor die Sonne. Ich bleibe stehen und suche sorgsam den Horizont ab. Himmelblau ansonsten. Puh, das hätte mir gerade noch gefehlt, ein Sommerfest, das ins Wasser fällt, …

Ich betrete unser Haus und blicke in zwei besorgte Gesichter. „Lea, wir müssen mit dir reden! Kommst du bitte!“

Oje, jetzt gibt es doch noch ein Gewitter. Fieberhaft überlege ich, was ich falsch gemacht haben könnte. Mein Zimmer ist aufgeräumt, mein Tagebuch fest verschlossen. Ich krame vorsichtshalber in meiner Hosentasche. Ja, da ist der Schlüssel.

„Setz dich!“ Papas Stimme wirkt bedrohlicher als eine Horde wild gewordener Hunde. Ich gehorche. „Ist wer gestorben? Oder was ist los?“

„Red nicht so einen Quatsch!“ Meine Mutter fuchtelt mit einem Päckchen Zigaretten vor meiner Nase herum. „Was ist das?“

Mist, die habe ich total vergessen! „Kippen. Siehst du doch!“

„Werd mal nicht frech, Fräulein!“

„Hast du in meinen Sachen gekramt?“ Das sieht meiner Mutter ähnlich – von Privatsphäre noch nie etwas gehört.

„Du bist sofort still. Wir stellen hier die Fragen!“ Eine dicke Falte bildet sich auf Papas Stirn. „Also, woher sind die Zigaretten?“

„Das sind Susis. Sie hat sie mir neulich vor der Schule hektisch in die Tasche gestopft, weil ihre Eltern um die Ecke kamen.“

„Aha. Und da bist du dir sicher?“

„Ja, Papa. Ehrlich, ich rauche nicht. Ich möchte doch nicht wie Onkel Otto enden.“

Meine Mutter setzt sich und atmet erleichtert durch. „Susi ist kein Umgang für dich!“

„Du hast Hausarrest!“, setzt mein Vater nach.

„Was? Nein! Heute ist doch das Sommerfest. Das darf ich nicht versäumen!“

„Du bleibst zu Hause!“

„Du versaust mir mein ganzes Leben!“ Ich stehe vom Tisch auf, eile über das Treppenhaus nach oben, stürze in mein Zimmer und knalle die Zimmertüre hinter mir zu. Der Wumms ist so kräftig, dass es in den Türangeln kracht.

Jetzt wird nie was aus Liam und mir! Ich möchte auf der Stelle sterben!

Ich lasse mich auf mein Bett plumpsen. Tränen perlen aus meinem Augenwinkel und die Nase läuft.

***

Hoffentlich schauen meine Eltern vor dem Schlafengehen nicht in meinem Zimmer vorbei. Eigentlich machen sie das nie. Ich habe vor gut zehn Minuten trotzig „Gute Nacht“ gesagt und den Eindruck erweckt, ich würde schlafen gehen. Dabei bin ich über die große Kastanie vor meinem Fenster nach unten geklettert.

Das Sommerfest ist bereits in vollem Gange. Es riecht nach Bratwurst und Zuckerwatte. Aus den Lautsprechern in der Nähe der Tanzfläche dröhnt Musik der 80er Jahre. Die Abenddämmerung hat eingesetzt. Kerzenlicht flackert in farbigen Gläsern, bunte Luftballons bewegen sich sanft im Wind. Ich schaue mich um. Susi steht neben einem Schulkameraden an einem der Stehtische und saugt gelangweilt an einem Strohhalm, der in einer Limo-Flasche steckt. Als sie mich sieht, winkt sie mir und eilt auf mich zu.

„Da bist du ja endlich!“

„Meine Eltern haben deine Kippen gefunden! Gab ein riesiges Theater deswegen.“

„Verdammt! Glaubst du, dass sie was zu meinen ,Alten‘ sagen werden?“

„Keine Ahnung. Hast du Liam gesehen?“

„Ja, er steht mit dem Mädchen von heute Mittag dort drüben neben der Tanzfläche.“

Susi nimmt mich an der Hand und zieht mich hinter sich her. Wir bleiben in ein paar Metern Abstand zu Liam, der Trulla, und seinen Freunden stehen.

„Sie heißt Lilli und klebt schon den ganzen Abend wie Kaugummi an ihm.“

Sabine drängt sich an uns vorbei und rempelt mich an. „Wird wohl nichts aus dir und Liam, was?“ Ihr triumphierendes Lächeln geht mir durch Mark und Bein. Am liebsten würde ich ihr eine klatschen.

„Zisch ab, du dumme Pute!“ Sabine grinst hämisch und mischt sich unter das tanzende Volk.

Ich starre zu Liam und Lilli. Sie hat ihren rechten Arm lässig auf seiner Schulter abgelegt und gibt irgendeine Story zum Besten. Die Jungs lachen und mir ist zum Weinen. Ich könnte ihr den Hals umdrehen. Obwohl ich den Anblick kaum ertrage, kann ich meinen Blick nicht von den beiden lösen. Wie gerne wäre ich an Lillis Stelle!

Liam dreht sich in meine Richtung. Als er mich sieht, nickt er knapp zu mir herüber, beugt sich zu Lilli und flüstert ihr etwas ins Ohr. Ich dreh mich um und stapfe davon. Wäre ich nur zu Hause geblieben. Heute ist echt ein Scheiß-Tag! Meine Wangen werden feucht. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Sicher Susi. „Ich haue ab! Liam, dieser Depp, kann mir gestohlen bleiben!“

„Was? Lea!“

Verdammt! Gibt es irgendwo ein Loch, in das ich verschwinden kann?

Meine Beine werden schneller und schneller. Mein Verfolger holt mich ein und kriegt mich an der Schulter zu fassen. „Lea, jetzt warte doch. Sprich mit mir!“

Keuchend komm ich zum Stehen. Ich möchte mich nicht zu Liam umdrehen. Ich sehe sicher furchtbar aus und es ist mir megapeinlich.

„Ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet! Weißt du, ich mag dich.“

Hat Liam das jetzt gerade wirklich gesagt?

„Das habe ich gesehen. Du hast dich doch bestens mit dieser Lilli vergnügt!“

Liam beginnt zu feixen.

Was zum Teufel ist daran so lustig?

„Dachtest du Lilli und ich…?“ Liams Augen leuchten und er hält sich den Bauch vor lauter Lachen.

„Du kannst mir gestohlen bleiben!“

„Lea! Lilli ist doch nur meine Cousine. Sie ist mit meiner Tante vor ein paar Wochen hierhergezogen und hat noch keine Freunde.“

Ich sehe in Liams ozeanblaue Augen und würde am liebsten darin ertrinken. Er kramt in seiner Hosentasche und zieht ein Taschentuch hervor. „Darf ich?“

Ich nicke. Vorsichtig tupft er meine Wangen trocken.

„Schon besser. Komm, lass uns tanzen gehen!“

Ich spüre seine warme Hand, die nach meiner fasst. Kleine Blitze jagen durch meine Finger und bahnen sich ihren Weg bis zu meinem Herzen.

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