Von Hans-Günter Falter

„Mein dummes, dummes Kind! Stellen Sie sich nur vor, es hatte nichts Besseres zu tun als gleich zu ihrem Vater zu laufen und ihm alles brühwarm zu erzählen. Dieses dumme, dumme Ding“.

„Was ist denn passiert?“

Frau Weigand schüttelte den Kopf, dann sagte sie: „Ich hatte Streit mit meiner Tochter!“
Wieder einmal. Und es ging um den Vater, auch wieder einmal. Absolut nichts Neues. Es versprach einmal mehr eine dieser gefürchteten, langweiligen Sitzungen zu werden, bei der es mir schwerfallen würde meine Gedanken nicht schweifen zu lassen. Was in diesem Fall nicht schlimm war, denn ohnehin redete Frau Weigand gerne und viel. Ich gab ihr das Gefühl zuzuhören, und das war für sie vollkommen ausreichend. Sie war zufrieden. Und ich machte einen absolut professionellen Job. Zwei Jahre schon war sie bei mir in psychotherapeutischer Behandlung. Ich kannte jeden Zipfel ihrer Hirnwindungen und jeden Gedankenfetzen, den sie jemals gedacht hatte in ihrem einfach gestrickten Leben.

Frau Weigand fand, dass ihr verhasster Ex, ihre Tochter ausnutzte und die viel zu viel Zeit mit ihm und den Kindern aus seiner neuen Ehe verbrachte. Zeit, die ihr dann für ihre Mutter fehlte. Alles wie gehabt! Was mache ich heute in der Mittagspause? Döner hatte ich gestern. Vielleicht mal Fisch? …

Offenbar gingen Frau Weigand im Streit mit der Tochter die Argumente aus und die Nerven durch und so enthüllte sie ihr: „Dieser Mann ist übrigens gar nicht dein leiblicher Vater!“
Das hatte ich zwar nur mit einem halben Ohr gehört, aber ich war sofort hellwach.

Da hatte diese verhärmte, zwanghafte, neurotische Frau also ein Geheimnis, auf das ich bisher noch nicht gestoßen war; trotz meiner jahrzehntelangen Erfahrungen und ausgefeilten Gesprächstechniken in Verbindung mit meiner Menschenkenntnis!
Sie hatte einen Liebhaber. Unglaublich. Hätte ich ihr niemals zugetraut. Alle Achtung. Ich zweifelte eine Millisekunde an meiner fachlichen Kompetenz.

Entgegen meiner Vermutung versprach es nun doch ein interessantes Gespräch, oder vielmehr Monolog, zu werden. Ich richtete mich gespannt in meinem Sessel auf, dabei bemerkte ich wie tief ich mich in diesen eingegraben hatte. Es war mir fast peinlich. Aber nur fast. 

Die ausführlichen und ausschweifenden Erzählungen, Spiralen aus geblähten Worten, die sich quälend langsam zuzogen, wieder weiteten und endlos um ein unbekanntes Zentrum kreisten, bevor sie sich in Zeitlupe einem undefinierten Ziel näherten, konnte ich nun gut ertragen, weil ich den finalen Endpunkt diesmal schon kannte.

Sie erzählte: „Als ich noch mit dem Weigand verheiratet war, hat er sich immer eine Tochter gewünscht. Ein Mädchen wäre sein größtes Glück. Jeden Sonntagmorgen kam er vor dem Frühstück und hat mit mir geschlafen, aber ich bin nicht schwanger geworden. Das ging über viele, viele Monate. Er war sehr enttäuscht, denn er hat es sich doch so sehr gewünscht.
Na ja, dann bin ich halt zu meinem Nachbarn gegangen und neun Monate später wurde unsere Tochter geboren.“
Ich war geplättet. Es klang, als ob sie sich eine Zange oder einen Hammer geliehen hätte und ich wollte nachfragen, ob sie denn eine richtige Beziehung hatte, oder tatsächlich lediglich einen Samenspender gesucht habe. Sie redete aber ohne Pause weiter: „Der Weigand war glücklich und schrecklich in die Kleine vernarrt. Sie war sein Ein und Alles.
Nach einem Jahr kam Weigand wieder mit einem Kinderwunsch, diesmal wollte er einen Sohn.
Na ja, da bin ich halt wieder zu meinem Nachbarn rübergegangen und neun Monate später kam dann unser Sohn.“
Wieder versuchte ich mir vorzustellen, wie dies in Anbetracht der Naivität von Frau Weigand abgelaufen sein könnte. Klingelte sie beim Nachbarn und sagte: „Entschuldigung, ich bräuchte Ihre Hilfe, hätten Sie mal ein paar Minuten für mich?“ Oder: „Hallo, ich bin´s wieder, diesmal hätte ich gerne einen Sohn, was könnten wir denn da machen?“

Jedenfalls war Herr Weigand wieder total selig.

„Nun war er ganz zufrieden! So hatte er sich seine Familie immer vorgestellt. Sooft er konnte, hat er sich liebevoll um die Kinder gekümmert, alles war in bester Ordnung. Er liebt die Kinder auch heute noch, obwohl er sie auch ausnutzt, als Babysitter für seine beiden anderen Kinder mit der neuen Frau.“
Meine Gedanken schweiften ab. Unwillkürlich fragte ich mich, ob diese ’neue Frau Weigand‘ auch einen Nachbarn bemüht hatte oder ob die Kinder ganz normal am Sonntagmorgen vor dem Frühstück fabriziert wurden.

„Und jetzt“, unterbrach sie meine Gedankengänge, „jetzt hat meine Tochter ihm gleich weitergesagt, dass er nicht ihr richtiger Vater ist. Er hat sich fürchterlich aufgeregt und mich sofort angerufen. Wahnsinnig geschimpft hat er und mir Vorwürfe gemacht.
Ich weiß gar nicht, was er eigentlich will? Er wollte eine Tochter und bekam eine Tochter. Er wollte einen Sohn und er bekam einen Sohn. Wo ist denn nur sein Problem? Können Sie verstehen, worüber er sich so aufregt und warum er so ein Theater macht?“

Es war das erste Mal in all den zahllosen und bis dato zermürbenden Sitzungen, dass Frau Weigand eine Frage an mich richtete. Sie schaute mich erwartungsvoll an und redete, entgegen ihrer Gewohnheit, nicht sofort weiter.
Es war also keine rhetorische Frage, sondern ein ernsthaftes Interesse an meiner Meinung zu dieser Sache.

Ich fühlte mich geehrt und war irgendwie gerührt. Sie nahm mich also doch tatsächlich wahr.

Ich sagte zu ihr: „Na ja, ich habe da so eine Idee. Wir Männer mögen es nämlich gar nicht, wenn unsere Frauen mit anderen ins Bett gehen. Und wir werden auch nicht so gerne belogen. Vielleicht ist er deshalb sauer. Können Sie sich das vorstellen?“

Frau Weigand schaute mich mit großen Augen an und überlegte einen Moment, dann sagte sie: „Er wollte eine Tochter und bekam eine Tochter. Er wollte einen Sohn und er bekam einen Sohn. Wo ist denn nur sein Problem?“

Wahrscheinlich hätte ich eine Endlosschleife ausgelöst, wenn ich meinen Satz auch noch einmal wiederholt hätte. Und sie dann wieder ihren … Sie schien tatsächlich nicht in der Lage zu sein, ein Problem in ihrem Verhalten zu erkennen.

Bis zu der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter hatte sie die Sache mit dem Nachbarn erfolgreich verheimlicht. Irgendetwas in ihr wusste also zumindest ansatzweise, dass es so nicht in Ordnung sein konnte und es ein Problem geben könnte. Und sie hat es schließlich im Streit mit der Tochter bewusst eingesetzt, um diese zu verletzen oder um den Vater schlecht zu machen. Oder beides!

Wie auch immer. Endlich kam Schwung in die Therapie, hoffentlich blieb es nicht nur bei diesem Sturm im Wasserglas.

Ich freute mich jedenfalls schon ein Wenig auf die nächsten Sitzungen. Aber wirklich nur ein Wenig!

 

 

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