von Vanessa Wedekämper

Sturm im Wasserglas … über das Thema diesen Monat habe ich lange nachgedacht.
Was kann ich dazu schreiben? Ein großer Wirbel, um eine Nichtigkeit … Während ich
über ein passendes Thema grüble, denke ich darüber nach, wann sich für mich das
letzte Mal ein Problem im Endeffekt als Kleinigkeit erwiesen hat. Aber ich kann mich
nicht erinnern. Die Probleme in meinem Alltag erscheinen mir so groß. Eigentlich weiß
ich, dass es keine wirklichen Probleme sind. Aber es fühlt sich nicht so an.
Es fühlt sich an, als wäre ich in diesem Wasserglas, als würde sich der Sturm vor mir
auftun und versuchen mich mit aller Gewalt nach unten zu reißen. Als würde ich jeden
Tag aufs Neue diesem Sturm gegenüberstehen und versuchen nicht zu ertrinken. Auch
wenn meine Ängste mir, im wahrsten Sinne des Wortes, die Luft rauben.
Eigentlich habe ich nie Probleme gehabt. Zugegeben, meine Eltern haben an mich, als
erster und einziger Sohn, hohe Erwartungen. Doch ich habe mich dadurch nie unter
Druck gesetzt gefühlt. Lernen fiel mir schon immer leicht und auch bei meinen
Mitschülern war ich beliebt. Selbst das angesehene duale Studium bei einer Bank habe
ich ohne Probleme bekommen.
Doch dann änderte sich alles. Erst langsam und dann ganz plötzlich war sie da, die
Angst. Auf einmal wurde aus ‚unbeschwert Leben‘ ein täglicher Kampf.
In meinem Kopf ist eine Stimme, die mich ständig vor allen möglichen Fehlern warnt,
die ich gemacht haben könnte. „Hast du den Ofen ausgemacht? Hast du wirklich
abgeschlossen? Willst du dich ernsthaft ins Auto setzen?“ Und weil das noch nicht
reicht, zählt sie dann gleich noch die Liste mit den möglichen Konsequenzen auf.
„Irgendwann machst du beim Fahren einen Fehler. Du nimmst jemanden die Vorfahrt
oder übersiehst sogar einen Radfahrer. Und dann bist du schuld daran, dass andere
Menschen verletzt werden.“ Also fahre ich die 7 km mit dem Rad, weil es einfacher ist,
als sich der Stimme zu widersetzten.
Denn irgendwann werde ich schwach und ich glaube ihr. Dann packt mich die Angst.
Mein Puls fängt an zu rasen und obwohl ich immer schneller atme, bekomme ich immer
weniger Luft. Ich weiß, dass die Chancen, dass die Stimme recht hat, minimal ist. Aber
die Chance ist da. Selbst wenn die Situation überstanden ist, kommt sie mir nicht klein
und lächerlich vor. Es ist dann immer noch ein Sturm. Nur einer, dem ich erst einmal
entkommen bin. Doch ich sitze dann noch immer in dem Wasserglas fest.
Ich sehne mich zurück nach früher, in meine unbeschwerte Kindheit. Als die Welt noch
in Ordnung schien und die Monster unter dem Bett durch ein Nachtlicht vertrieben
werden konnten.
Egal, wie groß das Problem war, Mama hat mich in den Arm genommen und gesagt:
„Alles ist gut.“ Und schon war alles wieder gut.
Aber als Erwachsener weiß man, so einfach ist es leider nicht.

 
 
Auch beruflich wird es immer schwieriger. Ich habe meinen Job wirklich gemocht, aber
mir fallen immer mehr Situationen auf, in denen ich gravierende Fehler machen könnte.
Als ich damals das Studium angefangen habe, war es kein Problem für mich. Klar,
wenn ich mich vertippe oder bei einem Geldbetrag eine Null zu viel setzte, hat das
weitreichende Konsequenzen. Dieses Risiko hat einfach dazu gehört. Heute hinterlässt
das Wissen bei mir eine große Unsicherheit. Genauso wie mögliche falsche Beratungen
und Risikoberechnungen. Schon allein die E-Mails zu bearbeiten, macht mir Angst. Die
Technologie bei den Spam-Mails ist weit vorangeschritten. Natürlich gibt sich da bei
Privatleuten keiner viel Mühe. Aber in einer Bank sieht das anders aus. Die stehen bei
Hackerangriffe weit oben. Was ich mit einem falschen Klick alles anrichten könnte …
Vielleicht sollte ich mir einen neuen Job suchen. Ja, bestimmt. Weniger Risiko bedeutet
weniger Angst. Außerdem habe ich schon immer gerne gekocht. Als Koch könnte ich
jetzt mein Hobby zum Beruf machen und Menschen mit meinem Essen glücklich
machen. Mich an neuen Gerichten kreativ ausleben und mit etwas Glück mal ein
eigenes Restaurant führen.
No way“, sagt die Stimme in meinem Kopf.
Ich zucke zusammen. „Wieso? Da kann ich mich nicht verrechnen, keine Finanzkrise
auslösen oder einem Hacker Zutritt gewähren.“
„Schonmal was von Salmonellen gehört? Oder wenn jemanden einen
anaphylaktischen Schock bekommt, weil du vergisst, dass er seine Essen ohne
Mandeln bestellt hat. Oder wenn du Hähnchen…“
Ich hasse diese Stimme. „Ist ja gut!“, rufe ich und versuche, sie so zum Schweigen zu
bringen.
Was für einen Job könnte ich sonst machen? „Vielleicht Architekt?“, frage ich
vorsichtig.
„Klar, weil ein Konstruktionsfehler gar nicht schlimm wäre“, sagt die Stimme
sarkastisch. „Das kann doch alles deinetwegen einstürzen.“
„Oder Elektriker?“
„Du wärst nicht der Erste, der durch schlechte Arbeit einen Gebäudebrand auslöst.“
„Bauarbeiter?“
„Wieder Einsturzgefahr.“
„Vielleicht Einzelhandel? Also, solange ich nicht die Verantwortung dafür trage, dass
der Laden abends abgeschlossen ist.“
Die Stimme erwidert erstmal nichts …
Doch während ich hier sitze, frage ich mich, wie meine Zukunft aussieht. Mit einem Job,
den ich nur mache, weil er nicht zu beängstigend ist. Und Kinder werde ich wohl auch
nicht haben können. Ich habe ja schon Angst davor, auf das Kind von meinem Kumpel
aufzupassen. Denn es gibt viel, was dem Kleinen passieren könnte und wie viel Leid ich
ihm und meinem Kumpel damit zufügen würde.

 
 
Was soll das alles? Ich will nicht mehr mein ganzes Leben nach meiner Angst richten
müssen. Ich will mich nachts nicht stundenlang im Bett wälzen. Ich will nicht mehr
ständig diesen Druck in der Brust spüren, der mir fast die Luft abschnürt. Ich will nicht
länger in diesem Wasserglas leben.
Ich will endlich wieder selbst entscheiden, was ich tue. Endlich wieder frei sein.
Und wenn ich jetzt nicht damit anfange, ist vielleicht nicht mehr viel Leben übrig …
Dass sich das nicht einfach ändern wird, nur weil ich beschließe, keine Angst mehr zu
haben, ist mir bewusst. Aber alles beginnt mit einem ersten Schritt. Und der ist doch
meistens, sich sein Problem einzugestehen. Deshalb und weil ich es allein nicht
schaffen werde, schreibe ich jetzt einen Brief an meine Eltern. Und wer weiß, vielleicht
wird es schon dadurch etwas besser, dass Mama sagt, dass alles wieder gut wird.