Von Clara Sinn

Die zerstampften Tabletten rührte sie stilecht mit einem Glasstäbchen um.

Weiße Minibröckchen sausten kontrolliert umher in aufgezwungener Bahn. Ein Schnee-Wirbelsturm im Glas, von dem sie lange, lange nicht lassen konnte, den sie wieder und wieder anfachte. Es war noch nicht genug. Nochmal 10 Tabletten rein.

Warum gab es kein Luxussterben, kein humanes Land, das einem zuletzt Zuwendung zu empfangen erlaubte? Eine einzige wohldosierte Tablette, nicht ein solcher Aufwand, jeder machte andere Angaben über die sichere Menge.

Ihr hätte es gefallen, die in einem ziselierten, antiken Silberdöschen serviert zu bekommen, sie zwischen einem Dutzend dunkelroten Samtkissen unterschiedlicher Größe und Form, mal mit Kordeln oder Bommeln verziert, sitzend einzunehmen.

Ungeschminkt. So, wie sie gelebt hatte, unverstellt, was sie anbelangte. Höchst verkünstelt, wenn es um die Ausstattung ihrer Umgebung ging. Aufs Haar die 1:1-Wiedergabe ihrer Märchenträume von Reichtum.

Das Döschen mit allem Brimborium von einer ganzen Riege Pagen in Livreen mit bestickten Seidenpantoffeln und weißen Handschuhen dargebracht. Deine Wünsche werden respektiert! Egal, was man sich wünschte, dass es einem umstandslos ermöglicht wurde auf diesen so schmerzlich kostbaren letzten Metern.

Was bräuchtest du eigentlich?

Eine Umarmung. Von Jesus Christus selbst.

Und sie schloss ihre Augen, faltete gläubig die Hände, tat einen tiefen Atemzug völligen Vertrauens in reiner Vorfreudenstimmung sicherster Erwartung. Nahm wahr, wie ein milchiger Schleier riss und sie diese unendlich liebevolle Zärtlichkeitswärme einer unbeschreiblichen machtvollen Präsenz umarmte, umhüllte, an einer menschlichen Brust tröstete.

Gefühlt 100 Jahre. Gestreichelt, gestärkt, restlos bejaht. Es soll so sein, wie du es willst. Du bist es wert, dass sich die Welt nach dir richtet. Siehe, ich folge deinen Träumen, deinen Impulsen, Einfällen, deiner grenzenlosen Spielfreude. Sie war eingetreten in diesen Modus: Alles erlaubt, alles recht. Weil du es bist. Ich bin gerne für dich da.

Ihr Herz trank sich satt. Es gibt nicht zu tun. Nichts zu hetzen. Kein: Ich muss möglichst maximal volltanken. Jemals mehr … als sie sich wiederfand, noch tief nachatmend, in dieser sanftesten Landung aller Zeiten in einer Welt, deren lichtvollen Schatten sie nun sah.

Diese geheimnisvolle Spur eines unbesiegbaren Lichtes ließ sie es von Kopf bis Fuß spüren: Es lohnt sich. Allein schon, es weiter und weiter spüren zu können, real, da.

Das Meeting stand an, es war an der Zeit, nochmal die Post zu checken und das Telefon meldete sich hartnäckig … es gibt nichts zu tun. Sie entschied in aller Freiheit, den Apparat die nächsten zwei Stunden zu ignorieren … es gibt nichts zu tun. Sammelte die Unterlagen zusammen … wie gut es tut, es gibt nichts zu tun … Begab sich auf Wolken zum Computer, begrüßte die schon pünktlich Dazugeschalteten … es gibt nichts zu tun, es ist so schön …

Der Chef, verspätet wie immer und gleich Druck machend, wie eigentlich auch immer, hob an … es gibt nichts … Wirklich nichts Vergleichbares.

Ihre Ohren waren beim Disput, die Augen auf den Zahlenreihen in der Tabelle … ihr inneres Auge aber badete in diesem lichten Schimmer, der sie so geerdet zu halten vermochte und ihr Ohr lauschte diesem unendlich leisen hebenden Klang dieses eigentlich unsichtbaren unauslöschlichen Leuchtens gesättigten Zuversichtsfriedens.

Sie führte gerade ihren Part aus, was die Defizite der Quartalsliquidität betraf, aber in Wahrheit weidete sie ihr geliebtes Herz … betrachtete ihr ungezwungenes Herz, wie es sich so freudig einfach weiden konnte … Fülle des Lebens … Inmitten des Gefechts um Ziffern hinter dem Komma … hatte sie ihre Sinne dabei, wenn sich ihr Herzwesen daran weidete zu tun, was es am liebsten tat, sich zu laben …

Was möchte ich eigentlich essen?

Und eigentlich trinken?

 

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