Von Helmut Blepp

Zettel

Seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit Hermanns Briefe ausgeblieben sind, ist Wollschon sehr verstört. Kaum, dass er im Park noch grüßt, und selbst wenn er nach langen ziellosen Wanderungen auf den Wegen am Weiher entlang endlich auf einer Bank ausruht, laufen seine Finger fahrig weiter auf den schmächtigen Oberschenkeln.

Manche behaupten, Hermanns Briefe hätten bemerkenswerte Geldbeträge enthalten, die Wollschon jetzt schmerzlich vermisse. Einige versteigen sich sogar zu der Behauptung, er habe endlich den Mut gefunden, eine geschmacklose Liaison zu beenden, und lächeln anzüglich bei der Vorstellung greiser Lust.

Wollschon, von verschiedenen Seiten auf seine offensichtliche Niedergeschlagenheit angesprochen, hüllt sich in Schweigen. Hermann dagegen tut seit Tagen sehr gesellig, doch kann man beobachten, dass er bei seinen Spaziergängen stets den Teil des Parks meidet, den Wollschon gerade abschreitet.

Ich fürchte, dass diese Verhaltensweisen zu weiteren üblen Gerüchten führen können. Es ist bekannt, dass Müßiggänger großes Talent besitzen, schlecht über andere zu reden, und wer in unserem Haus wäre nicht müßig. Mir selbst sind schon Gedanken gekommen, für die ich mich schämen müsste, würden sie publik. Der Konflikt zwischen Wollschon und Hermann belastet mich auf sehr persönliche Weise, weil er so viel Unruhe in die Gemeinschaft bringt. Dabei habe ich zu beiden kein inniges Verhältnis. Sie lassen ungern jemanden an sich heran, sind wenig zuvorkommend, auch den Damen gegenüber, und sind recht einsilbig. Hätte sich seinerzeit nicht durch einen dummen Zufall herausgestellt, dass Hermann Briefe an Wollschon schickt, wären wir gewiss davon ausgegangen, dass die beiden keinerlei zwischenmenschliche Kontakte pflegen. Im Lauf der Monate haben alle im Haus mitgekriegt, dass diese einseitige Korrespondenz besteht, doch nun, da sie unterbrochen ist, sprießen die Spekulationen. Hinter vorgehaltener Hand zerreißen sich die anderen das Maul und warten ab.

Ich ertrage solche Situationen einfach nicht, auch wenn ich selbst gar nicht beteiligt bin. Deshalb, und nur deshalb, habe ich heute Morgen diese Zettel geschrieben und jeweils einen unter den Zimmertüren von Hermann und Wollschon durchgeschoben, nachdem beide das Haus in Richtung Park verlassen hatten. Jetzt ist gleich Mittagszeit, und nach dem Essen wird sicher jeder der beiden ein wenig ruhen wollen. Ich bin gespannt.

Es hat zum Abendbrot geläutet. Heute bin ich einer der ersten im Speisesaal. Ich gehe dem Küchenpersonal zur Hand, verteile die Schüsseln mit Frühlingssuppe auf die Tische und hantiere an der Brotschneidemaschine, deren Tücken die Köchin fürchtet. Eben klingen Schritte vom Stiegenhaus herunter. Auch den Fahrstuhl habe ich gehört. Ich laufe zum Eingang des Saals und schaue verstohlen hinaus. Da kommen doch tatsächlich Wollschon und Hermann Seite an Seite den Flur entlang. Beide lachen, wohl über eine Zote, und Hermann klopft Wollschon auf die Schulter. Nie waren sie sich wohl näher. Und dabei habe ich nur „Verzeih mir“ auf die Zettel geschrieben.

 

 

(Version 2)