Von Björn D. Neumann

Sei gegrüßt, verehrter Zuhörer. Ich will dir meine Geschichte erzählen. Wäre ich hochwohlgeboren, wäre es die Geschichte eines Helden. Als vierter Sohn eines Schäfers im Limousin, nennt man mich einen Mörder. Mein Name ist Pierre Basile. Ein Unglücksrabe.

Seit Wochen standen wir schon unter Belagerung. Unsere Burg – Châlus-Chabrol – gehörte zum Bündnis der Aufständischen um den Grafen Adémar von Angoulême. Kein Geringerer, als der König von England und Herrscher des angivinischen Reiches, Richard I., genannt Löwenherz, belagerte uns. Ich muss gestehen, wie viele junge Männer, bewunderte ich ihn. Er war der Held unserer Zeit. Ein Kriegerkönig, um den sich unzählige Legenden rankten. Kreuzfahrer und gefürchteter Feind Saladins. Aber Heldenverehrung füllt keine Bäuche und ich stand im Dienst des Vizegrafen Adémars von Limoges, der die Festung verwaltete. Als Burgbesatzung hat uns die Politik der hohen Herren nicht zu interessieren, und ob nun der König von England oder der von Frankreich der Lehnsherr unseres Herren ist, spielt keine Rolle für uns. Brot, ein Dach über dem Kopf und ab und zu eine Münze für einen Becher Cidre im Wirtshaus oder den Besuch im Freudenhaus sind alles, was wir Männer von niedrigem Stand als unser kleines Glück bezeichnen dürfen. 

Nun waren wir im Krieg und unsere Aussichten, dieser Belagerung standzuhalten, mehr als dürftig. Die Vorräte gingen zur Neige und unsere Mägen knurrten. Ich hatte meinen Dienst mit meinem Freund Antoine getauscht. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als ich mich zu meinem Posten begab. Und an dem Abend würde wahrscheinlich kein Angriff mehr erfolgen. Alles deutete auf eine friedliche Nacht hin. In meinem Beutel hatte ich noch einen Kanten altes Brot und einen Schlauch Wasser. Ein kärgliches Abendmahl, aber so lange wir wenigstens das noch hatten, konnten wir darauf hoffen, dass von irgendwoher der Graf mit Hilfstruppen auftaucht, die Löwenherz und seine Männer zum Teufel jagen würde. Nun ja, zu träumen ist auch dem einfachen Soldaten erlaubt. Wahrscheinlicher war jedoch, dass wir uns ergeben und auf die Gnade der Belagerer hoffen mussten. Und Nachsicht und Gnade sollen nicht die herausstechenden Eigenschaften dieses Plantagenet-Königs sein.

Nach der kleinen Stärkung blickte ich über die Zinnen der Burgbefestigung. Ich musste die Augen zum Schutz vor der tiefstehenden Sonne mit der Rechten abschirmen. In der Ferne flatterten bunte Wimpel und Banner auf den Zelten der Belagerer. Entferntes Hämmern und Klopfen zeugten vom Bau todbringender Maschinerie. Wenn sie gewusst hätten, wie knapp unsere Vorräte waren, hätten sie sich wahrscheinlich die Arbeit gespart. Als ich noch darüber nachdachte, wie weit wohl ein Trebuchet Felsbrocken schleudern würde, sah ich, wie ein Mann aus dem Heerlager den Hügel hinab in Richtung unserer Burg schlenderte. Er trug weder Helm noch Rüstung. Gekleidet wie ein Edelmann, der arglos der Jagd oder anderen gesellschaftlichen Vergnügungen nachging. Das rotblonde Haar leuchtete wie Kupfer in der untergehenden Sonne. Konnte das sein? Sicher gab es noch mehr Rothaarige in Richards Armee. Aber von dieser Größe? Auch wenn der Mann mehrere hundert Fuß entfernt war, war unverkennbar, dass es sich um einen Hünen handelte. Hünen gab es nur wenige und Richard Plantagenet war ein solcher. Was in aller Welt hatte er vor? Ohne Schutz, ohne Wachen? Wollte er seine Aura der Unbesiegbarkeit zu unserer Entmutigung zur Schau stellen? Oder war es einfach Dummheit und aristokratische Arroganz, die ihn zu dieser unüberlegten Handlung trieb?

Es war mir egal. Langsam nahm ich die Armbrust, die an der Steinmauer lehnte, setzte meinen linken Fuß in den Bügel und zog mit beiden Händen die Sehne, bis diese einrastete. Ich nahm einen meiner präparierten Bolzen – es ist unritterlich, aber ich bin einfacher Soldat und reibe die Spitzen mit dem Dung des Viehzeugs ein, um die Chance auf Wundbrand zu erhöhen – und legte ihn in die Führung ein. Mein Atem ging ganz ruhig, als ich, an eine Zinne gelehnt, mein Ziel ins Visier nahm. Aus der Ferne krächzte ein Rabe. Wem galt dieses Unglückszeichen? Dem König, der sich mutwillig in Gefahr begab, oder mir, dem Tor, der glaubte, Ruhm und Ehre zu erlangen? Eigentlich war er für einen Armbrustschuss zu weit entfernt, aber ich musste einfach mein Glück versuchen. Und sei es nur, um ihm zu zeigen: „Keinen Schritt näher, wir sind nicht bereit zur Aufgabe!“ Ich atmete aus, suchte den Druckpunkt des Abzugs. In dem Moment, als die Sehne losschnellte, spürte ich, wie eine warme Frühlingsbrise mein Gesicht streichelte. Damals glaubte ich an einen Gunstbeweis Fortunas, heute weiß ich, dass es die schadenfrohe Umarmung des Teufels war, der auf meine arme Seele wartete. Das typische Sirren des Bolzens lag in der Luft.

Die Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit an. Gerade als mein Mut sank, wurde der Mann durchzuckt. Seine Linke ging an die Schulter und er sank mit einem Knie zu Boden. Wenig später stürzten fünf Männer den Hügel hinab und halfen ihm wieder auf die Beine. Auf zwei der Helfer gestützt, kehrte er ins Lager zurück. Ich jubelte. Erst jetzt merkte ich, dass mein Hauptmann hinter mir stand. Er legte seine Hand auf meine Schulter. „Ein guter Schuss, Pierre. Ich hoffe nur, du musst ihn nicht teuer bezahlen.“

Wie wahr seine Worte waren, musste ich leidvoll erfahren. Aber zuvor war ich der Held. Die nächsten Tage hatte ich ausreichend zu Essen, zu Trinken und Yvonne, eine Magd, auf die ich seit einiger Zeit ein Auge geworfen hatte, zog mich bereitwillig ins Stroh. Bei Gottes Zähnen, die Belagerung hätte bis zum jüngsten Tag so weitergehen können. Sie endete früher, als mir lieb war. An der Spitze der Eroberer ritt ein brabantischer Söldner namens Mercadier in die Festung ein. Immer wieder erschall ein wütendes „Wo ist er? Wo ist der Schurke?“ über den Burghof. Mir sank der Mut, aber als das vierschrötige Ungetüm anfing, unschuldige Frauen und Kinder zu bedrängen, überwand ich meine Angst. „Pierre Basile. Zu Euren Diensten“, gab ich mich mit einer leichten Verbeugung zu erkennen. Der Schlag traf mich unvorbereitet und heftig.

Ich kam erst wieder zu mir, als ich gefesselt über einem Packesel liegend, Richtung Heereslager transportiert wurde. An dem Zelt mit dem Banner mit den drei goldenen Löwen auf rotem Grund, zog man mich auf die Beine. Hände wie Schraubzwingen führten mich hinein. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das schummrige Licht. Ich erkannte einen Mann im Bett, der umringt war von mehreren Adligen und Geistlichen. Man flüsterte ihm etwas ins Ohr und uns wurde ein Zeichen gegeben, näher zu kommen. An Richards Bettstatt wurde ich zu Boden gedrückt. Die Umstehenden starrten mich mit unverhohlenem Hass an. Richard sah älter aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Das Haar und der Bart wurden von weißen Strähnen durchwirkt. Seine Haut hat einen blaugräulichen Schimmer und die glasigen Augen starrten ins Leere. Es war eindeutig, dass dieser Mann im Sterben lag.

„Wie ist dein Name, du Unglücksrabe?“, fragte Richard mit gebrochener Stimme.

„Pierre Basile aus Châlus“, antwortete ich knapp.

„Nun, Pierre Basile aus Châlus, offenbar ist dir gelungen, was all meinen Feinden bisher versagt blieb. Selbst der große Saladin konnte mich nicht niederstrecken. Dir ist es gelungen.“

Richard war mein Feind und im Bewusstsein, dass mein Leben keinen Pfifferling mehr wert war, antwortete ich: „Sire, wenn ein Löwe, dumm wie ein Esel, um die Burg spaziert, ist das keine große Herausforderung.“ Das blaue Auge hatte ich mir redlich verdient.

Richards Lachen erstickte in einem heftigen Hustenanfall. „Wenigstens hat er Mumm“, keuchte er, als er wieder zu Atem kann. „Das gefällt mir. Mercadier?“

„Sire?“

„Ich wünsche, dass diesem jungen Mann kein Haar gekrümmt wird. Verstanden?“

„Sehr wohl, Sire.“

Mit den Wünschen von Königen ist das so eine Sache. So lange sie gesund sind und nicht im Sterben liegen, sind sie Gesetz. Schwinden die Lebensgeister, schwindet auch die Autorität. So erlangte ich nicht die Freiheit, sondern verschwand im dunkelsten Verlies der Burg. Jeden Abend besuchte mich mein „Freund“ Mercadier, um mir meine tägliche Tracht Prügel zu verabreichen. Als sich eines Abends der Schlüssel im Schloss drehte und ich mich schon auf meine nächste Abreibung einstellte, erschrak ich. Ich dachte, Gevatter Tod wäre gekommen, um mich zu holen. Das bleiche, totenkopfähnliche Gesicht gehörte allerdings einer alten Frau. Gestützt auf einen Stock, sah sie mich hasserfüllt an.

„Du Mörder! Wie konntest du das tun? Keine Mutter sollte ihre Söhne beerdigen müssen. Das war nun der vierte. Richard war die Sonne meines Lebens. Schande über dich!“

Mir wurden sofort drei Dinge klar. Vor mir stand die berüchtigte Eleonore von Aquitanien. Richards Mutter. Und ihre Augen sagten mir, dass sie ihren Sohn zu Grabe getragen hatte. Die Konsequenz daraus war, dass mein Leben nun endgültig verwirkt war.

Wäre ich ein Edelmann gewesen, hätte mich die Geschichte zumindest nicht vergessen. Für Richards Feinde wäre ich vielleicht sogar ein Held gewesen. Der arme Pierre Basile, Sohn eines einfachen Schäfers, wird Mörder geschimpft und bespuckt. So kann es laufen, wenn einem das Schicksal nicht wohlgesonnen ist. Vielleicht magst du ja die Geschichte eines gefallenen Löwen und eines Unglücksraben in die Welt tragen, damit dieser nicht vergessen wird.

Hörst Du das? Mercadier kommt. Hoffentlich zieht er mir nicht wieder das Fell über die Ohren …

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