Von Ingo Pietsch

Der Mann, der an der zum Bahnsteig abgewandten Seite saß, hieß Gerald.

Aufgrund der sauberen Lederschuhe und der dunklen Anzugshose hätte man ihn für einen Büromenschen halten können. Er hatte sich ein rotes Regencape übergeworfen und seine Dienstmütze lag nicht erkennbar auf seinem Schoß. Gerald war Zugbegleiter und auf dem Weg nach Hause. Seine Schicht war zu Ende und seine Kollegin würde gleich die Türen kontrollieren und der Zug abfahren.

Gerald blickte einmal kurz auf.

Am Mindener Bahnhof auf Gleis 1 war in den Nachtstunden nicht viel los. Er saß im Rhein-Ruhr-Express, dem RRX 6, der hier Endstation hatte und dann wieder Richtung Bielefeld zurückfuhr.

Minden war der Knotenpunkt zwischen Nordrheinwestfalen und Niedersachsen und viele Pendler kamen hier durch, um  nach Hannover zu fahren.

Der Zug machte eine Pause von 20 Minuten. Weiter hinten öffnete sich eine Tür und Gerald hörte klar und deutlich „Auf Gleis 13 fährt ein der …“, bis die Tür sich wieder schloss.

Gerald kratzte sich an seinem rauen Kinn. Es war eine lange Nacht fast ohne irgendwelche Zwischenfälle gewesen.

Nur ein Angetrunkener hatte ein paar Probleme bereitet, sich dann aber doch schnell wieder beruhigt.

Als Zugbegleiter musste man ein dickes Fell haben. Wie die Kassiererin im Supermarkt. Da bekam man alles ab, was nicht rund lief. Von leicht komplizierten Fahrtarifen bis hin zur Pünktlichkeit der Züge.

Das Schlimmste für Gerald war aber das 9-Euro-Ticket gewesen, das alle Kollegen bis an den Rand der Belastbarkeit gebracht hatten.

Gerald schüttelte diese Gedanken ab und döste weiter vor sich hin. Das Brummen der Zugmaschine, die jeden Moment losfahren würde, lullte ihn ein.

Mit einem Mal ging die Tür auf und ein Jugendlicher in dunkler Kleidung und Hoody sprang in das Abteil.

Gerald tat so, als schliefe er und linste durch seine halb geschlossene Augen auf das Geschehen.

Eine Aufnahme sagte im Zug: „Einstieg nur mit gültigem Fahrschein.“

„Halts Maul!“,  murmelte der Jugendliche und drehte sich zu seinem Kumpel auf dem Bahnsteig um.

Der hielt sein Handy hoch und filmte anscheinend.

Die Tür schloss sich und der in Dunkel gekleidete sprang auf der Stelle hin und her, als wolle er sich warm machen. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und war sichtlich nervös.

„Ey Alter, wann fährt das Scheißding endlich los?“, fragte er Gerald.

Gerald blickte auf seine Armbanduhr, da er die Bahnhofs-Uhr draußen nicht sehen konnte. Dabei rutschte sein Cape herunter und der Halbstarke erkannte ihn als Zugbegleiter.

„Pünktlich in 3 Minuten“, antwortete er.

„Oh Mann, eine Ticket-Tussie! Jetzt bin ich am Arsch!“, sprach der Halbstarke absichtlich tuntig und kaute dabei Kaugummi.

Gerald setzte sich aufrecht hin. „Ich hab Feierabend und will keinen Stress, aber meine Kollegin ist da hinten und wird gleich kontrollieren kommen.“ Gerald zeigte mit dem Daumen in die Richtung, die er gemeint hatte.

„Ich zahl nie was fürs Fahren und bis dahin bin ich wieder raus“, meinte der Typ katschend.

Gerald konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, da der Jugendliche sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Wahrscheinlich wegen der Videoüberwachung.

Der Typ machte sich weiter locker und hob beide Arme hoch. Gerald erkannte statt eines Gürtels eine Kette, an der ein Portmonee mit einem Karabiner befestigt war.

Der Halbstarke sah nach unten. „Biste scharf auf Geld? Verdienste nicht genug?“

„Noch kannst du ein Ticket ziehen, sonst wird es richtig teuer!“, meinte Gerald gelassen.

„Du kannst mir gar nichts!“ Der Typ war vorgesprungen und hauchte Gerald an. Eine Wolke aus Zimtkaugummi, irgendeinem Energy-Drink und Bubblegum-Steam wehte ihm entgegen.

Eigentlich eine angenehme Mischung, dachte Gerald. Nur ein bisschen zu süß.

Er zuckte mit den Schultern und freute sich umso mehr auf sein Zuhause. Er musste vorsichtig sein. Zu oft waren diese Jugendlichen unberechenbar gewesen und er hatte sich schon ein paar leichte Schnittwunden deswegen eingehandelt.

„Ich will keinen Ärger, tu, was du tun musst“, entgegnete er und zog sein Cape wieder hoch.

Das Betriebsgeräusch der Zugmaschine wurde lauter. Der RRX würde jeden Moment losfahren.

Der Halbstarke zog ein kleines Gerät aus seiner Hoodytasche und setzte es an den Schaltknopf der Tür.

„Was wird das?“, wollte Gerald wissen.

„Das Ding hier überbrückt Türsperren und setzt sie außer Kraft. Mein Kumpel macht gleich ein Video, wenn ich aus dem anfahrenden Zug springe und mich auf dem Bahnsteig abrolle. Das Bus-Video von mir hatte bei You-Tube über zwei Millionen Klicks. Das bringt ne Menge Kohle!“

Gerald war auf aufgesprungen. „Das ist lebensgefährlich! Mach das lieber nicht. Was, wenn du gegen einen Stützpfeiler springst?“

Der Typ zog seine Hose an den Gürtelschlaufen hoch. „Mann bleib locker, alles easy!“

Der Zug fuhr an. Gerald taumelte, der Typ drückte auf das Gerät und steckte es sich wieder in die Tasche.

Die Doppeltür fuhr auf und der Fahrwind zerrte an der Kleidung.

Noch war der Zug nicht schnell. 

Der Typ salutierte vor Gerald, drehte sich um und sprang.

Sofort schloss sich die Tür wieder. 

Es rumpelte mehrmals an der Außenseite des Zuges. Gerald sprang ans Fenster, konnte aber nur den Kumpel des Typen sehen, wie er die Hände vors Gesicht schlug.

Als Gerald sich fragte, was gerade genau passiert war, blickte er zu Boden.

Dort lag, halb in der Tür eingeklemmt, das Portmonee mit einem Teil der Kette.

Sie musste abgerissen sein, als der Halbstarke sich die Hose hochgezogen hatte.

Gerald zog geistesabwesend die Notbremse und hoffte auf nichts Schlimmeres …

 

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