Von Sonja Ziegler
Sie stehen am Sperrgepäckschalter der Lufthansa und warten ungeduldig, bis sie an die Reihe kommen. Die Zeit drängt. Ihr Flug startet um 16:10 Uhr und es ist bereits 15:00 Uhr vorbei. Markus trägt die große Transportbox mit dem dicken Kater, Laura die kleinere mit der betagten Miezi. In Gedanken geht sie immer wieder ihre Checklisten durch. Hat sie wirklich an alles gedacht?
Die Dame am Schalter begutachtet die Boxen und stellt fest: „Da sind ja gar keine Trinkbehälter in Ihren Transportboxen! Haben Sie unser ‚Merkblatt zum Tiertransport‘ etwa nicht gelesen?“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, bricht es aus Laura heraus. „Das hab ich dir doch schon vor zwei Monaten ausgedruckt!“
Markus bleibt wie immer gelassen: „Komm, reg dich ab! Was soll denn der Quatsch jetzt? Wozu brauchen die Katzen einen Trinkbehälter? Wir fliegen doch nur zwei Stunden!“
Das sieht die Dame von der Lufthansa aber anders, Trinkbehälter müssen her, und zwar schnell! Sie schickt Markus zu einem Fundbüro irgendwo in einem abgelegenen Gebäudetrakt, wo man solche Behälter eventuell käuflich erwerben kann . Er setzt sich in Bewegung und verschwindet in den Eingeweiden des Frankfurter Flughafens. Laura steht da wie vom Donner gerührt. Dann tigert sie noch eine Weile vor dem Schalter auf und ab, bevor sie sich resigniert auf einen der Plastikstühle sinken lässt. Vergeblich versucht sie, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. In der Abflughalle herrscht wie immer geschäftiges Treiben, der Geräuschpegel ist kaum zu ertragen. Jetzt eine Zigarette, das wär’s …
Er hatte es schon wieder getan! Seit über dreißig Jahren waren sie nun ein Paar und dieser Mann hatte rein gar nichts dazugelernt! Von Anfang an hatte Laura ihr gemeinsames Leben organisiert und die Marschrichtung vorgegeben, sonst wäre es wohl schon bald zum Stillstand gekommen. Doch Markus hatte ihr überragendes Organisationstalent nie wirklich zu schätzen gewusst und torpedierte den von ihr perfekt strukturierten Lebensentwurf ständig mit seinen spontanen Einfällen und seiner Nachlässigkeit.
Schon ihre Mutter hatte sie damals gewarnt: „Denk doch mal nach, Kind! Der Mann ist Sternzeichen Zwilling – wie dein Vater! Noch so ein Chaot in der Familie! Das wird ein böses Ende nehmen mit euch beiden!“ Aber tendierten nicht alle Mädchen dazu, ihren eigenen Vater zu heiraten? Laura schlug alle Warnungen in den Wind und ließ sich nicht beirren.
Markus mochte vielleicht ein Wirrkopf sein, aber er hatte auch viele gute Eigenschaften vorzuweisen. Seine gesellige Art, seine Spontanität und Sorglosigkeit hatten sie am Anfang geradezu fasziniert. Später, als oft praktische Probleme auftraten, die es zu lösen galt, waren ihr diese Charakterzüge immer mehr ein Dorn im Auge. Lauras Leben war mehr oder weniger gradlinig verlaufen und sie hasste Planänderungen und Überraschungen jeder Art. Spontanität bedeutete für sie eine Vorlaufzeit von mindestens 24 Stunden. Zugegeben, ihre Schwangerschaft damals hatte sie beide völlig überrascht und ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt, aber Laura hatte sich schnell wieder gefangen und schon nach wenigen Jahren in ihre Mutterrolle hineingefunden.
Nur wer seine Lebensplanung immer fest im Griff hatte, konnte auch wirklich glücklich werden! Das war von jeher Lauras Lebensmotto gewesen und daran würde auch dieser Mann nichts mehr ändern. Markus ließ das Leben lieber völlig planlos auf sich zukommen und war der festen Überzeugung, dass sich alle Probleme irgendwann schon von selbst regeln würden.
Damals, als Laura ein paar Jahre daheim geblieben war, um sich um die Kleine zu kümmern, und sie gezwungen gewesen waren, mit einem Gehalt auszukommen, hatte Markus einfach all ihre Ersparnisse geplündert und war eines Abends mit einer sündhaft teuren Stereoanlage nach Hause gekommen. Laura war völlig ausgerastet und hatte ihren Mann mit Vorwürfen überschüttet .
Markus war sich keiner Schuld bewusst und ließ ihren Zorn einfach an sich abprallen: „Komm, mach dich mal locker! So eine Anlage wollt ich schon immer haben!“
„Und woher nehmen wir jetzt das Geld für die neue Waschmaschine?“, gab sie kleinlaut zurück.
Während Markus in aller Ruhe die Anlage installierte, fiel das Kind begeistert über die leeren Kartons her und baute aus dem Verpackungsmüll eine prima Höhle für sich und seine Kuscheltiere.
Während Laura beruflich vorankommen wollte und ständig nach gut bezahlten Jobs Ausschau hielt, gab sich Markus mit wenig zufrieden und zeigte keinerlei Ambitionen. Hauptsache, er hatte seine Ruh und ganz viel Spaß bei der Arbeit.
„Was nützt mir das viele Geld, wenn mein Chef ein Arschloch ist und die Kollegen mich in den Wahnsinn treiben?“
Da hatte er nicht ganz Unrecht, aber einer musste schließlich ihren Lebensstandard sichern. Sie wollte doch nur das Beste für ihre kleine Familie! Warum sträubte er sich immer so? Würde er jemals erwachsen werden und endlich Verantwortung übernehmen? Als die Tochter in der Schule nicht die gewünschte Leistungsbereitschaft an den Tag legte und Laura verzweifelt versuchte, das Kind auf den rechten Weg zu bringen, zog es Markus vor, sich aus allem „rauszuhalten“. Die nervtötenden Diskussionen waren ihm einfach viel zu anstrengend.
„Du darfst das Kind nicht so unter Druck setzen! Die wird schon irgendwie durchkommen!“ „Genau“, dachte Laura frustriert, „wie der Papa, so die Tochter!“
Weil dieser Mann absolut kein Gespür für den Ernst der Lage hatte und Konflikten konsequent aus dem Weg ging, hatte Laura notgedrungen alle wichtigen Entscheidungen allein treffen müssen. Markus würde wohl immer ein Lebenskünstler bleiben – und Laura musste lernen damit zu leben. Am allerliebsten organisierte sie ihre gemeinsamen Urlaubsreisen. Monatelang recherchierte sie im Internet und trug alle relevanten Informationen akribisch in einer Excel-Tabelle zusammen, um diese dann vor Ort Punkt für Punkt abzuarbeiten. Darüber konnte Markus nur lachen, er wollte sich lieber überraschen lassen. Am Urlaubsort war er dann aber stets doch ganz froh, dass alles so reibungslos funktionierte.
Diese Reise würde ganz anders werden! Das hatte sich Laura fest vorgenommen. Sie würde völlig entspannt an die Sache herangehen und Markus nicht ständig mit ihren Ängsten und Sorgen behelligen. Vielleicht würden sie jetzt endlich alle Altlasten über Bord werfen und ihrem Leben doch noch eine neue Richtung geben? Die Antwort auf ihre Fragen stand wohl in den Sternen …
Die Katzen in ihren Transportboxen sind mucksmäuschenstill, spüren Lauras Nervosität. Tiere können sich ja angeblich so gut in die Stimmung eines Menschen hineinversetzen, ganz anders als manche Leute … Immer wieder lässt Laura ihren Blick durch die Halle schweifen auf der Suche nach ihrem Mann, aber der bleibt verschollen.
Jetzt tritt ein junges Pärchen an den LH-Schalter. Die beiden haben einen offenen Big Bag dabei, den sie als Sperrgepäck aufgeben wollen. Der Inhalt der Tasche ist eine bunte Mischung aus Büchern, Kleidung, Elektrogeräten und anderen Einrichtungsgegenständen.
Laura starrt fasziniert auf die XXL-Tasche. „Wow! Was für ein Chaos“, denkt sie und grinst.
Die Dame am Schalter bleibt gelassen und erklärt den Herrschaften geduldig, dass dieses „Gepäck“ erst in einer Holzkiste verpackt werden muss, bevor es mitfliegen darf. Damit haben die beiden nun überhaupt nicht gerechnet.
„Du blöde Fotze! Ich hab doch gesagt, das funktioniert so nicht!“, herrscht der junge Mann seine Freundin an. Laura zuckt zusammen. Die Freundin zickt zurück: „Du Arschloch! Mach’s doch grad’ selber!“
Nachdem keiner der beiden eine Lösung für dieses Problem zur Hand hat, wühlen sie noch eine Weile in der Tasche herum und fluchen, bevor sie unverrichteter Dinge wieder abziehen, den Big Bag hinter sich her schleifend.
Laura überlegt noch, wie es mit den beiden wohl weitergehen wird, und merkt, dass die kleine Vorstellung ihre Stimmung deutlich aufgehellt hat, als die LH-Dame sie aus ihren Gedanken reißt: „Haben Sie was von Ihrem Mann gehört? Wo bleibt der denn? Hat er sich vielleicht verlaufen?“
„Keine Ahnung!“ Laura zuckt mit den Schultern. „Der hat sein Handy gar nicht eingesteckt!“
Die Dame schüttelt fassungslos den Kopf. „Sie haben noch genau fünf Minuten oder der Flieger geht ohne Sie!“
Jetzt wird’s eng! Laura springt von ihrem Stuhl auf, ihr Magen krampft sich zusammen. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, suchen vergeblich nach Lösungsansätzen. Es gibt nichts, was sie noch tun könnte, und diese Ohnmacht bringt sie fast um den Verstand. Die inzwischen nicht mehr ganz so freundliche Dame schlägt vor, Markus über die Lautsprecheranlage ausrufen zu lassen. Doch als sie zum Telefonhörer greift, kommt er wie aufs Stichwort mit zwei Trinkbehältern in der Hand um die Ecke gerannt. Selten hat sich Laura so gefreut, ihn zu sehen, aber jetzt ist nicht die Zeit für leidenschaftliche Umarmungen. Ein Security-Mitarbeiter kommt herbei und durchsucht die Transportboxen nach Drogen und Waffen, während Markus die verängstigten Tiere abwechselnd auf den Arm nimmt.
Noch zwanzig Minuten bis zum Abflug … Die Dame am Schalter zieht noch schnell Lauras Kreditkarte durch den Scanner und zischt: „Das nächste Mal planen Sie bitte ein bisschen mehr Zeit ein!“
Laura fummelt die Karte zurück in ihren Geldbeutel, lächelt und antwortet entschlossen: „Es wird kein nächstes Mal geben: Wir wandern heute aus!“
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