Von Lauretta Hickman

 

„Heute Nacht ist sie fällig. Ich bring sie zum Schreien wie noch keiner zuvor. Ab morgen klebt sie mir an den Fersen wie eine läufige Hündin, die nicht genug bekommt, ihr werdet sehen.“

Rocco, dessen Worte in schroffem Kontrast standen zum hübschen Gesicht mit den rehbraunen Scheinwerferaugen, langen Wimpern, den hohen Wangenknochen unter zarter, milchkaffeefarbener Haut, lehnte am Tresen und sah in die Runde. Die Gang war mit zehn Mann vollzählig und glühte vor.

Sie kannten sich zum Teil seit ihrer Kindheit, waren in der Hood zusammengewachsen, hatten sich aus Hassles mit Gangs anderer Ethnien rausgehauen, miteinander in Schwierigkeiten gebracht und vom schiefen Pfad geholt. Alle hatten überlebt bis hierher und eine mehr oder weniger legale Existenz gebaut. Blutsbrüderschaft war ein zu schwaches Wort für das, was sie verband.

Jensi grinste.
Toni sagte: „Nie und nimmer lässt sie dich ran. Die ist dir über, Rocco. Lass die Finger davon!“

Die bärtigen Bären Tim und Kalle nickten, wortkarg wie immer, einhellig in ihr Guinness.

Tessa war Gespräch unter ihnen seit vier Monaten. Sie war die neue Chefin des Blue Moon, der traditionellen Eck-Bar, die ihr der alte Kurt, bereits in seinen Neunzigern und abgrundtief müde, gerne übergab. Er hatte alles gesehen und erlebt, besoffene Russen und Amerikaner rausgeworfen, den jungen Elvis bei sich auftreten lassen, später die Beatles; anderen hungrigen Künstlern Auftritte ermöglicht. Mancher Star vergaß das nicht und besuchte das Blue Moon, wenn er oder sie in der Stadt war. Daher war die Bar immer interessant. Man wusste nie, wer gerade da war.

Mit vibrierender Strahlkraft und reinem Frauenteam hatte die schöne Tessa binnen weniger Wochen die Stammgäste um den Finger gewickelt und geschickt Stück für Stück neue Konzepte umgesetzt: Poetry Slams, Standup-Comedy-Rallyes, Erlebnisgastro, Pecha Kucha-Business-Nights – die Bar brummte.

Aber: Sie war unnahbar. Man wusste nicht so recht – gab es einen Partner? War sie lesbisch? Sie gab ihr Privatleben nicht preis. Hatte sie eines?

Rocco erwiderte: „Toni – du weißt es, ich bin derjenige von uns, der am meisten Frauen flachgelegt hat. Das ist mein Talent, möglicherweise das einzige, das ich habe: Frauen öffnen. Ich weiß einfach, wie es geht. Instinktiv.“

Martin, einer der drei Verheirateten unter ihnen, sagte ruhig: „Weißt du, Rocco, vielleicht besteht die Kunst ja nicht darin, so viele Frauen wie möglich ins Bett zu kriegen, sondern ein und dieselbe immer wieder – inmitten von Windeln, Haushalt, Geldsorgen und Augenringen bis zum Kinn.“

Alle sahen ihn an – so offene Ansagen kannten sie gar nicht von ihm.
Jovial klopfte Rocco ihm auf die Schulter: „Armer Kerl. Das wird wieder.“

Martin quittierte dies ungerührt mit einem Schluck Hefeweizen.

„Also, Jungs – wir sehen uns um Elf im Café.“

Martins Worte hatten in Rocco etwas anklingen lassen, das er nicht fühlen wollte. Irgendwie war die Stimmung gekippt. Konnte er nicht brauchen jetzt. Er schlug mit der Handfläche auf den Tresen und warf in die Runde: „Morgen, intakt!“

Unisono kam es von den anderen zurück: „Morgen, intakt.“

Ihr Gruß aus gefährlicheren Zeiten: Er beschwor, dass sie sich heil und vollzählig am nächsten Tag wiedersehen würden.

Rocco zog seinen cremefarbenen Anzug in Form, trat selbstbewusst vor die Stammglühkneipe und ging zu seinem Porsche.

 

 

An die Jungs musste er kurz denken, als er hinter Tessa stand, die gerade den Schlüssel in ihre Appartementtüre steckte. Das lange, braunwildlockige Haar, in der Bar meist unter einer großen Schiebermütze verstaut, fiel wie ein Wasserfall auf ihren Rücken. Ihr Geruch mit dezentem Hauch von Arbeitsschweiß, der anmutige Körper, den sein geübter Blick unter ihrer – nie aufreizenden – Kleidung ausmachte: Er war aufgeregt, erregt. Hatte sich aber unter Kontrolle.
Seht ihr, ich wusste es, dachte er.

Sie machte Licht. Ihm fiel sofort der minimalistische, edelbiophile Stil auf: Kork, Bambus, Naturstein, Holz, viel Platz, Pflanzen.
Tessa warf ihre Sachen auf eine Ablage, drehte sich um und sah ihn aus bernsteinfarbenen, asiatisch anmutend schrägen Augen an.
„Bist du sicher, dass du das willst, Rocco?“, fragte sie mit ihrer leicht angerauten Stimme.

Wenn du wüsstest, dachte Rocco. Laut sagte er, in seiner bewährten Mischung aus anschmiegsam und feurig: „So sehr, meine Schöne. Seit ich dich das erste Mal sah.“

„Dann komm. Ah – zuerst, nimm bitte Champagner und Erdbeeren aus dem Kühlschrank hier. Das Schlafzimmer ist da drüben. Das Bad nebendran. Ich schlage vor, du gehst duschen. Im Bett mag ich einen frischen Mann.“ Sagte sie. Mit Bernsteinfunkeln.

Das machte Rocco doch nur zu gerne. Er fand zwei passende Gläser und folgte ihr ins orangefarbene Schlafzimmer. Sie war bereits dabei, Kerzen anzuzünden. Eine Menge Kerzen waren hier.

„Bin gleich wieder da“, raunte er verheißungsvoll und ging ins anliegende Badezimmer. Duschen war schnell erledigt. Er betrachtete sich im Spiegel: Perfekt. Trainiert, aber nicht zu definiert. Frisch ganzkörperrasiert, halb erregt – er war zufrieden.

Als er ins Schlafzimmer kam, hatte sie sich bereits entkleidet. Kurz blieb ihm der Atem stehen: so eine Schönheit! Ein Göttinnenkörper in Vollendung. Nicht überall rasiert, aber getrimmt, wie er bemerkte.

„Nun ich“, sagte sie knapp und verschwand ihrerseits im Bad. Er machte es sich auf dem Bett bequem, öffnete die Flasche und schenkte ein.

Als sie aus dem Bad kam, tätschelte Rocco zärtlich auf den Platz neben sich. Tessa ließ sich geschmeidig sinken. Mit einer Erdbeere strich er ihr über die vollen Lippen, bis sie sie öffnete, reichte ihr ein Glas, sie stießen an. Sie trank. Er begann mit dem feinen Rand ihres Ohrs, küsste den Hals, zart, weich saugend und arbeitete sich gekonnt, langsam und genießerisch nach unten. Von ihren – sehr gepflegten – Füßen wieder zurück, um sich ihrer Muschel zu nähern, tupfte sanfte Küsse auf die prallen Bögen, aber irgendwie… Rocco kam aus dem Takt. Etwas war anders als sonst.
Sie… reagierte nicht.
Kein bisschen.
Er sah nach oben. Da lag sie, in bequemem 60°-Winkel in ihren Kissen, hielt immer noch die Champagnerflöte in der Hand und betrachtete ihn interessiert. So wie ein ungewöhnliches Insekt.

„Was ist? Gefällts dir nicht?“

„Nun, schöner Rocco – deine 0815-Profi-Escort-Masche brauchst du bei mir nicht abzuziehen. Hat null Wirkung auf mich“, informierte sie ihn freundlich und nahm einen Schluck.
„Die Frage ist doch: willst du lediglich meinen Körper benutzen und als weitere Trophäe feiern? Oder mir und auch dir selbst heute Nacht wirklich begegnen?“

Rocco fühlte seine Erregung jäh in sich zusammenfallen. Was war das denn? Sowas hatte er ja noch nie erlebt.

„Das war keine rhetorische Frage“, setzte sie lächelnd nach.

„Äjm… also… natürlich dir begegnen.“ Er hatte keine Ahnung, was sie meinte. Daher auch nicht, wovon er selbst da sprach.

„Gut. Dann setz dich auf. Nimm das Kissen unter dein Gesäß, das macht es einfacher.“
Sie setzte sich ihm gegenüber. Legte ihre rechte Hand auf die Mitte seiner Brust und schob die linke mit einem gekonnt schnellen Griff unter seinen Damm, hielt nun weich und sicher Juwelen und Schnecke in der Hand. Rocco zuckte kurz.
„Jetzt du. Rechte Hand unter meinen Schoß, linke Hand auf mein Herz.“

Rocco folgte verdattert. Gleichzeitig war der erfahrene Liebhaber in ihm angefixt: Was würde das werden? Sie wirkte weder verrückt noch aggressiv. Nur auf einmal so… anders.

„Nun sieh mir in ein Auge. Und atme bewusst in deinen hübschen Bauch.“

Rocco tat, wie ihm geheißen. Bald wurde ihm kalt, dann heiß. Kurz bekam er Panik, da hieß sie ihn tief atmen. Beruhigte ihn. Alles zu schnell, zu emotional für ihn. Aber er blieb. Sein Brustkorb begann zu brennen, seine Schnecke entrollte zum Zepter, wippte, fiel zusammen, rührte sich erneut. Er schob das Peinlichkeitsgefühl weg, bekam aber den Eindruck, mit jeder Minute mehr kam ihm seine gesamte Liebeskompetenz abhanden.

Sie sah ihn unverwandt an aus ihrem warmen tiefen Bernstein. „Bleib hier. Fühl einfach, was da ist. Und atme!“

Auf einmal war er ihr so nah oder sie ihm… wie seine Mutter, seine Schwestern, ein Engel, wie seine erste Liebste, seine Kindergartenfreundin – und doch anders.

Nach einer Weile flüsterte sie: „Nun komm.“ Und ließ sich nach hinten sinken.

In dieser Nacht lernte er vom weichen Eindringen. Davon, in einer Frau bewegungslos zu ruhen. Sich, wenn, nur langsam zu bewegen, zeitlos in Zeitlupe. Kaperte ihn die Erregung seines Körpers und er wollte „richtig“ loslegen, stoppte sie ihn, hieß ihn dableiben, sie ansehen, mit seinem Atem den Druck verteilen. Er traute ihr. Es gab Momente, da wollte er fliehen. Dachte, er würde verrückt. Er blieb. Es war zu köstlich. Keiner von ihnen „kam“. Für Stunden waren sie so zusammen.
Bis sie ihn ins Taghelle entließ.

Was für ein brutaler Bruch.

In waidwunder Ekstase durch den lauten, kantiggrauen Arbeitsmorgen seiner Stadt stolpernd, trug Rocco sie mit sich, in sich, um sich; ganz Teil von ihr, nicht nur körperlich in ihr verschwunden.
Wo war der Porsche? Ach, ja – Nähe Blue Moon. Dort geparkt vor Ewigkeiten.

Als er übernächtigt, mit summendem Körper und wie nicht von dieser Welt um 11:15 Uhr im Café einlief, waren alle da.

„Und? Wie…“ Toni brach ab, als er Roccos Zustand bemerkte.

„Ich will nicht darüber reden“, sagte Rocco barsch und bestellte Espresso.

„Na? Abgedrückt?“ Jensi, feist grinsend.

„Nein, ich habe nicht ‚abgedrückt‘“, blaffte Rocco gereizt zurück. „Aber wir waren die ganze Nacht zusammen. Unbekleidet. Reicht das, ja?“

Betretene Pause. So hatten sie ihn noch nicht erlebt, das war ihm klar. Und es war ihm egal.

Jovial klopfte Martin ihm auf die Schulter.
„Da hat wohl jemand Gold gefunden.“

Tim und Kalle nickten bedächtig in ihr Guinness.

Was hatte sie zum Abschied gesagt? Auf seine Frage: „Warum ich?“

„Nun, mein schöner Rocco, von Anfang an konnte ich unter dieser ganzen Dummejungenprahlaggression dein Potenzial fühlen. Deine Hingabe. Und deine Angst davor.“

Verwirrt trank Rocco seinen viel zu heißen Espresso in einem Schluck. Und bestellte den nächsten.

 

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