Von Helmut Blepp

Fred hatte den Wecker auf drei Uhr früh gestellt, denn er wollte noch in der Dunkelheit am See sein. Eine weitere Entsorgung stand an. Auch sein jüngstes Opfer hatte er fachgerecht zerlegt und die Stücke nach und nach, mit Gewichten beschwert, am vertrauten Ort versenkt. Nur der Kopf lag noch in der Gefriertruhe. Den packte er, zusammen mit dem Hammer, in eine große Sporttasche und fuhr los. 

Der Parkplatz war verwaist, wie erwartet. Er stellte den Wagen ab, hob die Tasche aus dem Kofferraum und stieg die Anhöhe zum See hinauf. Als er die Dammkrone erreichte, hielt er inne. Er lauschte der Stille, die er so liebte. Sie blieb ungestört. Also hob er den durchgefrorenen Kopf aus der Tasche, fixierte ihn mit der linken Hand und schlug den Hammer mit der Rechten auf den vereisten Mund, um eine spätere Identifikation anhand von Zahnarztakten zu verhindern. 

Der Hammer rutschte von dem tiefgefrorenen Objekt ab, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Fred fluchte leise und holte ein weiteres Mal aus. Er legte seine ganze Kraft in den Hieb, doch der Kopf wurde ihm dadurch aus der Hand geprellt und rollte den Trampelpfad hinunter, auf dem er gekommen war. 

Fred eilte hinterher. Der Kopf aber war schneller, sprang von einer Grasnarbe zur nächsten und landete im Dickicht rechts vom Weg. Und dort stand ein gebeugter Mann mit seinem riesigen Hund im Schatten der Bäume. 

„Gordon ist harmlos“, sagte der statt einer Begrüßung und fragte dann: „Haben Sie etwas verloren?“ 

„Äh, ja“, bestätigte Fred. „Ein Blumenkohl ist mir aus der Hand geglitten.“ 

„Ein Blumenkohl also“, konstatierte der Fremde, „hier auf dem Damm und mitten in der Nacht. Das wird Gründe haben, nicht wahr?“ 

„Ich bin Angler“, gab Fred vor. „Mit dem Kohl locke ich die Fische an.“ 

„Nachtangeln, so, so. Mit Gemüse. Was es alles gibt!“ Er legte beruhigend die Hand auf den Kopf des irischen Wolfshundes. „Zufällig ist das mein See, und ich weiß“, er betonte das schelmisch, „womit meine Fische gefüttert werden.“ 

Es entstand eine peinliche Pause. Fred überlegte, ob er dem Klugscheißer den Schädel einschlagen sollte, doch der Anblick des zotteligen Riesenviehs hielt ihn davon ab. Aber was tun, fragte er sich. Sein Gegenüber entband ihn von der Entscheidung.

„Der Morgen ist recht kalt. Wollen Sie nicht mit zu meinem Haus kommen? Nur auf einen heißen Tee? Ich wäre erfreut, denn es verläuft sich selten jemand hierher.“ 

Fred sagte sofort zu, denn es war wirklich kühl. Und vielleicht bot sich in dem Haus die Gelegenheit, den Alten und seinen dämlichen Hund unschädlich zu machen. Er folgte den beiden, die sicher ihren Weg beschritten, obwohl die Dämmerung noch nicht hereingebrochen war. Bald standen sie vor einem kleinen Hof. Links neben dem mit Fachwerk gestützten Hauptgebäude lehnte eine alte Scheune. Auf der anderen Seite stand ein windschiefer Schuppen, und daneben war schräg in einen felsigen Hügel eine mannshohe Luke eingelassen. 

„Was ist das denn?“, fragte Fred. „Ein Bunker?“ 

„Nein“, antwortete der Alte. „Das ist ein Eiskeller. Den hat mein Urgroßvater gebaut.“ 

„Ja, von so etwas habe ich gelesen. Funktioniert das mit dem Kühlen tatsächlich?“ 

„Ich benutze ihn nicht mehr. Die dafür nötigen Eisstangen werden nirgends mehr angeboten. In jungen Jahren habe ich im Winter Eisschollen vom zugefrorenen See geholt und da drinnen ausgelegt. Eine Plackerei, sage ich Ihnen, doch ich konnte damit Fisch lagern bis zum Wochenmarkt, auf dem ich einen Stand betrieben habe. Jetzt bin ich längst Rentner und fische nur noch für den Eigenbedarf.“ 

Er sperrte die Tür auf, und sie traten direkt in die Küche des kleinen Hauses. Deren Wände waren mit Holztäfelungen verkleidet, darin eingebaut eine grob gezimmerte Eckbank, davor ein ebensolcher Tisch. Gegenüber stand ein breitbeiniger Kohleherd, an den der Alte jetzt trat, um aus einer hohen Blechkanne Tee einzugießen. 

„Setzen Sie sich doch“, forderte er seinen Gast auf und reichte ihm eine Tasse, aus der es aromatisch dampfte. Er selbst nahm gemächlich Platz, und Gordon, der die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen war, legte den Kopf auf seinen Schoß. 

„Der Fisch aus dem See schmeckte früher viel besser“, nahm er den Faden wieder auf. „Es herrschte ein buntes Gewimmel. Artenvielfalt nennt man das heute. Die Viecher fraßen einander, und die besten überlebten. Das Fleisch eines Hechts schmeckt nun einmal am leckersten, wenn er sich von seinesgleichen genährt hat.“ 

„Und warum hat sich das geändert?“, heuchelte Fred Interesse. 

„Es liegt am Futter. Qualitativ minderwertiges Futter wie … Blumenkohl zum Beispiel.“ 

Freds Körper spannte sich zum Angriff, doch ein leises Knurren des sonst reglosen Hundes warnte ihn, und er lehnte sich zurück an die Wand.

„Noch etwas Tee?“ Der Alte tat, als hätte er nichts bemerkt. Ohne eine Antwort abzuwarten, goss er seinem Gast nach. 

„Es kommen wirklich nicht mehr viele Leute hierher. Der See ist weit vom Schuss. Ohne Grund nimmt niemand den langen Weg auf sich. Und wer es tut, hat immer ganz bestimmte Gründe.“ 

Fred schaute ihn an und hob fragend die Augenbrauen. 

„Gemüseangler wie Sie“ erläuterte der Alte ironisch. „Und die Fleischfütterer.“

Gordons Ohren zuckten nervös. 

„Ganz ruhig, Junge“, flüsterte der Alte und strich über den gewaltigen Kopf des Tieres. An Fred gewandt, fuhr er fort: „Wissen Sie, es kommen ungewöhnlich viele Serienmörder hierher, um ihre Opfer zu entsorgen. Irgendjemand muss ihnen den Tipp gegeben haben, dass sie in meinem See gefahrlos alles abladen können, was die Polizei nicht finden soll. Stellen Sie sich vor, manchmal schwimmen mehr Leichenteile im Wasser, als meine armen Fischlein fressen können. Vor allem im Sommer ist auch der Geruch sehr lästig. Und der arme Gordon hat eine so feine Nase.“ 

Der Kerl ist nicht ganz dicht, dachte Fred. Er musste unbedingt etwas unternehmen, aber mit einem Mal fühlte er sich zu träge, um auch nur aufzustehen. Er vermochte gerade noch, den Ausführungen seines Gastgebers zu folgen.

„Mitunter ist es schon recht einsam hier draußen. Ich rede dann viel mit Gordon, obwohl er sehr einsilbig ist. Die Idee mit der Annonce im Dark Net kam mir an solch einem Abend, an dem mir wieder einmal die Decke auf den Kopf gefallen ist. Die passenden Formulierungen tippte ich ohne jedes Zögern in die Tasten. Einsam gelegener See. Ungestörte Spaziergänge fernab von jeder Bundesstraße. Ein Waldstück voller Geheimnisse. Das lockte viele hierher.“ 

Fred konnte sich nicht mehr bewegen. Ängstlich starrte er den Alten an, der sich jetzt erhob und vor ihn trat. Er musste es über sich ergehen lassen, dass dessen gichtige Hand seine Wange tätschelte. 

„Zugegeben, beim Eiskeller habe ich ein wenig geflunkert. In der Tat benutze ich ihn noch. Auch ohne Eis leistet er mir gute Dienste. Er ist hervorragend belüftet, und die Felswände halten ihn kühl. Meine Gäste wissen das sehr zu schätzen.“ 

Fred schwanden langsam die Sinne. Er wollte schreien, aber seine Zunge war gelähmt. Keiner seiner Muskeln ließ sich mehr kontrollieren. Nicht einmal die brennenden Augen konnte er schließen. Durch das Rauschen in seinen Ohren vernahm er entfernt die letzten Worte des Alten, der mit seinem Hund sprach, während er den restlichen Tee ausgoss. 

„Nicht dran schlabbern, Junge. Das Zeug ist pfui!“ 

Er setzte sich wieder an den Tisch und betrachtete aufmerksam seinen Gast, den in flachen Atemzügen das Leben verließ. Sobald die Sonne aufging, würde er die Schubkarre aus dem Schuppen holen und den Toten aufladen, um ihn zum Eiskeller zu bringen. Dort saßen bereits sieben Herren in verschiedenen Stadien der Mumifikation in einem Stuhlkreis, der noch freie Plätze aufwies.