Von Barbara Hennermann
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Schlaflos wälzte ich mich von einer Seite auf die andere.
Der elektronische Wecker spie die Zeit blaustrahlig in die Dunkelheit.
Die Minuten tropften an die Decke im Schlafzimmer und spielten mit meinen Gedanken Verstecken.
***
Meine Mutter sah sich als Kriegswitwe. Irgendwie. Vater war vor meiner Geburt bei einer Bundeswehrübung von einem Kameraden versehentlich erschossen worden. Was für eine Tragödie! Aber zumindest waren wir gut versorgt.
„Fritzchen“, sagte meine Mutter, die sich schon immer die Dinge passend zurechtbog, „Fritzchen, dein Papa ist für´s Vaterland gestorben. Wir können sehr stolz auf ihn sein.“
Ich war also stoisch stolz auf meinen Vater, den ich nur als Fotografie kannte. Diese stand bei uns auf der Kommode und gleich daneben das Kreuz mit unserem Herrn Jesus.
Mutter zog ihre eigenen Schlüsse aus den, wie ihr offenbar schien, ähnlichen Schicksalen und besuchte täglich erst die Frühmesse und danach den Friedhof.
Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als Pater Franziskus nach Mutters Messbesuch seinen Platz bei uns am Frühstückstisch fand.
„Schau, Fritzchen“, meinte die Mama und strich mir über´s Haar, „das ist doch schön, wenn der Pater Franziskus dir ein bisserl den Papa ersetzt, nicht wahr?“
Der Pater wiederum streichelte meiner Mutter über ihr ausladendes Hinterteil, seufzte wohlig und kniff mich in die Wange.
Ich hatte den Eindruck, dass er nicht nur mir den Papa ersetzen wollte.
Im dritten Schuljahr stand die „Erste heilige Kommunion“ an.
Der Pater wurde von Mama mittlerweile vertraulich „Franzel“ genannt und schien in unserer Zweizimmerwohnung seinen festen Platz gefunden zu haben. Mich hatte Mama auf ein Bettsofa im Wohnraum umgesiedelt und der Franzel war im Schlafzimmer untergekommen. Auf´s Getuschel meiner Kameraden hin hatte ich diverse und diffuse Vorstellungen über das, was im Schlafzimmer vor sich gehen könnte. Natürlich alles verborgen vor der Nachbarschaft, denn „die Leute zerreißen sich immer gleich das Maul, obwohl gar nichts dahinter ist.“
Die Vorbereitungen zur Erstkommunion lieferten weiteren Anlass für ausgiebige Besuche des Paters. „Du hast großes Glück, Fritz, dass der Herr Pater dir extra Unterweisungen gibt. Die anderen Buben haben das nicht!“
Mir persönlich hätte das normale Ausmaß der geistlichen Belehrungen in der Schule mit den anderen gelangt. Denn es wunderte mich schon sehr, dass der Herr Pater mich für die „extra Unterweisungen“ auf seinen Schoß zog und mir seinen heißen Atem in den Nacken blies. Ich fand das total unangenehm, ebenso wie die Verhärtungen, die ich unter meinem Popo in seiner Hose spüren konnte.
Mutter wollte sich auf mein Nachfragen dazu nicht äußern. Im Gegenteil. Sie sah mich mit hochrotem Gesicht an und schüttelte mich heftig an den Schultern: „Fritz, was du dir da einbildest, ist blanker Unsinn, hörst du? Ich möchte nicht, dass du zu irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verlierst!“ So aufgebracht hatte sie mich noch nie angesehen.
Aber offenbar hatte sie mit dem Pater gesprochen. Denn der packte mich am nächsten Tag am Arm und zog mich zu sich hin. „Fritz, wenn du weiter solche Lügen erzählst, kann ich dich nicht zur Erstkommunion gehen lassen!“
Die Erstkommunion war mir wichtig.
Es sollte Geschenke geben. Und der Pater versprach, dass uns der Herr Jesus begegnen würde. Vielleicht auch der Papa?
Also gelobte ich dem Pater, nicht mehr darüber zu sprechen. Auch nicht mit meiner Mutter. Was dem Pater so gut gefiel, dass er mir in den nächsten Wochen noch ein wenig näher rückte.
Die Vorbereitungen zur Kommunion fanden mit der Feier ihr zeitliches Ende und ich hatte erfahren müssen, dass die versprochenen Begegnungen eine große Lüge gewesen waren.
Allerdings schien der Obrigkeit der heiligen Mutter Kirche trotz großer Vorsicht zu Ohren gekommen zu sein, dass Pater Franziskus seinen Lebensraum und vor allem Schlafplatz im Kloster nur noch sporadisch wahrnahm. Offenbar hatte er damit die Grenzen überreizt, denn er wurde von einem Tag auf den anderen in ein weit entferntes Schaffensgebiet versetzt.
Mutter war untröstlich und befragte mich wieder und wieder, ob und wem ich was erzählt hätte. Aber ich hatte mein Wort gehalten.
Die Zeit nahm uns mit sich.
Ich machte eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann, bekam eine gute Anstellung in einem Gemischtwarenladen und leistete mir mit der Mama eine bessere Wohnung. Der Laden florierte. Bald stieg ich zum Filialleiter auf, übernahm nach wenigen Jahren eine Führungsposition und dann die Firma.
Mutter etablierte sich an meiner Seite. Die harmlose Erwähnung eines weiblichen Vornamens allerdings stürzte sie in schwere Atemnot und Bluthochdruck. Sie hatte ja nur mich!
Mein Leben verlief in ruhigen Bahnen.
Bis Evelyn sich bei mir in der Firma um eine Anstellung bewarb.
Es war späte Liebe auf den ersten Blick. Was für ein aufwühlendes Gefühl! Wir hielten unsere Liebe geheim und fühlten uns wie Teenager. Evelyne füllte aus, was mir bisher unbemerkt gefehlt hatte.
Zum Glück war Mutter so mit sich und dem Altwerden beschäftigt, dass ihr meine Euphorie nicht auffiel. Mittlerweile hatte sie die Achtzig überschritten, behielt aber ihre täglichen Kirchen- und Friedhofbesuche eisern bei. Es ist schon bemerkenswert, wie Routine und Starrsinn Strukturen im Alter aufrecht erhält!
Vor einem Vierteljahr kam Mutter nach ihrem Kirchgang zu mir ins Geschäft geeilt. Ihre faltigen Wangen waren rosig angehaucht und ihre vom Alter getrübten Augen leuchteten wie Sterne. Aufgeregt zog sie mich ins Büro. „Fritz, stell dir vor.. du wirst´s nicht glauben.. also rate mal..“ Ich legte den Arm um sie. „Nun mal langsam, Mama. Was ist denn Aufregendes passiert?“ Es brach aus ihr heraus: „Der Franzel! Stell dir vor, der Franzel ist wieder da! Er hat heute die Messe gelesen!“
Sofort war auch bei mir alles „wieder da“ – der heiße Atem in meinem Nacken, die ölige Stimme, das widerwärtige Gefühl, ihn zu spüren und die Wut. Meine Wut, die seit dem erpressten Gelübde in mir versteckt geköchelt hatte.
„Na toll, Mama. Und nun?“ Sie bemerkte meine gepresste Stimme nicht. „Fritz, ich dachte mir, erstmal laden wir den Franzel zum Essen ein und dann sehen wir, wie´s weitergeht.“ Sie schwebte regelrecht durch mein Büro. Ich überlegte. Der Franzel musste inzwischen schon über Neunzig sein?
Drei Tage später saß er mit Mutter am Abendbrottisch.
Mutter, die sich sonst nach Strich und Faden bedienen ließ, hatte ihn reich bewirtet.
Mir stieg sein säuerlicher, muffiger Altmännergeruch schon in der Diele in die Nase. Dick war er geworden, kahl, taperig und unansehnlich. Noch ekelerregender als früher.
Aber Mutter scherzte und kicherte und schwänzelte herum wie ein Backfisch. Er genoss es sichtlich.
Es kam, wie es kommen musste.
Keine drei Wochen später wurde überlegt, ob er nicht bei uns einziehen könnte. „Fritz, wir haben doch viel mehr Platz als wir brauchen! Der Franzel könnte mich ja ein bisschen unterstützen, wenn du im Geschäft bist.“
Weitere zwei Wochen später kam er mir entgegen geschlurft. Er belegte nun das Gästezimmer. Vorerst.
Wenige Tage später, Mutter und der Pater saßen gemütlich im Wohnzimmer beieinander und tranken ein paar Likörchen, hörte ich zufällig ihre Unterhaltung und erkannte, dass sich, dass ich etwas ändern musste:
Es ging nämlich um Versorgung, um Testamente und Notariate.
Dies war das Ende meiner Loyalität, meiner Selbstverleugnung und letztendlich auch meiner Sohnesliebe. Da saß dieser dicke, aufgeschwemmte, stinkende, selbstgefällige Pater und legte meiner Mutter nahe, ihren Sohn zu besch… Und diese Mutter schlug sich wieder auf seine Seite und verleugnete den Sohn. Mich! Es wurde Zeit…
***
Was für ein Glück, dass mir Evelyne mittlerweile so vertraut geworden war!
Ich besprach die Dinge mit ihr, brach endlich dieses unsägliche Gelübde und redete mir alles von der Seele. Wie erwartet verstand sie mich sofort. Mehr als das, sie entwickelte umgehend Problemlösungen.
Sie hatte in ihrer Verwandtschaft nicht nur einen ausgebufften Rechtsanwalt, sondern ein Bruder von ihr arbeitete auch in der Geschäftsführung der Caritas. Alles sehr brauchbare Menschen, wie sich jetzt herausstellte.
Denn es war Zeit, zu handeln:
Der Anwalt arbeitete einen Schriftsatz für die Diözese aus. Darin wurden die pädophilen Anwandlungen des Paters in meiner Kindheit sowie seine Übergriffigkeit in Bezug auf meine Mutter angeführt.
Außerdem veranlasste er die Entmündigung meiner Mutter wegen Altersdemenz und meine Vormundschaft für sie.
Auf dieser Grundlage fand mein zukünftiger Schwager einen Platz für Mutter in einem hübschen, nicht allzu weit entfernten Seniorenheim.
***
Die beiden Alten wissen bis heute nichts davon. Mutter soll es natürlich gut haben für ihre letzten Jahre. Mag sein, dass dennoch alles hartherzig klingt. Aber ich muss ja auch endlich einmal an mich denken!
Evelyne unterstützt mich großartig. Morgen wird sie mit all den Papieren und Unterlagen zu uns kommen. Mama wird endlich meine zukünftige Frau kennenlernen. Der baldige Umzug ins Seniorenstift ist auch schon geregelt.
***
Längst ist Mitternacht vorüber.
Bald wird es so weit sein.
Der neue Tag wird die Dinge unausweichlich ins Rollen bringen.
Mutters Hausarzt habe ich auf Abruf bestellt.
V2 Z 9267